Vorsatz und Begierde (German Edition)
würd ich das eigentlich nicht nennen.«
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Jonathan Reeves’ Eltern waren von ihrem kleinen Haus in Südlondon in eine Wohnung umgezogen, die in einem modernen Mietblock am Meer bei Cromer lag. Da seine Anstellung im Kraftwerk zur selben Zeit erfolgt war wie die Pensionierung seines Vaters, hatten sie beschlossen, sich in einem Ort niederzulassen, den sie aus vergangenen Urlaubstagen kannten und schätzten und, wie seine Mutter es ausdrückte, »um dir ein Heim zu bieten, bis eines Tages die Richtige kommt«. Sein Vater hatte fünfzig Jahre lang in der Teppichabteilung einer großen Firma in Clapham gearbeitet, wo er mit fünfzehn gleich nach der Schule angefangen hatte und allmählich zum Abteilungsleiter aufgestiegen war. Die Firma überließ ihm Teppiche zu weniger als dem Selbstkostenpreis, und die Schnittreste, zuweilen groß genug für ein kleines Zimmer, bekam er gratis, so daß Jonathan von klein auf keinen einzigen Raum im Hause kannte, der nicht mit Teppichboden ausgelegt war.
Manchmal schien es, als absorbiere und dämpfe der dicke Woll- und Nylonflor nicht nur ihre Schritte. Die gelassene Reaktion der Mutter auf jedwedes Ereignis war entweder ein leises »Wie nett!«, das sowohl auf eine köstliche Mahlzeit als auch auf eine Verlobung oder Geburt im Königshaus und einen besonders schönen Sonnenaufgang paßte, oder ein »Nein, wie furchtbar! Man fragt sich manchmal, wo das alles noch hinführen soll«, was gleichermaßen für so unterschiedliche Ereignisse wie das Attentat auf Kennedy, einen besonders schauerlichen Mord, mißbrauchte oder mißhandelte Kinder oder eine IRA-Bombe galt. Im Grunde aber fragte sie sich gar nicht, wohin das alles noch führen sollte. Fragen und sich wundern waren Emotionen, die längst unter Axminsterteppichen, Mohairläufern und Filzunterlagen erstickt worden waren. Er hatte den Eindruck, daß sie so gut miteinander auskamen, weil die Emotionen seiner Mutter, geschwächt durch Nichtgebrauch oder mangelnde Brennstoffzufuhr, mit etwas so Deftigem wie einem Streit nicht fertig wurden. Beim ersten Anzeichen einer Auseinandersetzung sagte die Mutter: »Fang nicht an zu schreien, Liebling, ich mag keinen Streit.« Meinungsverschiedenheiten, niemals sehr ausgeprägt, drückten sich bei ihr in mürrischem Schmollen aus, das sich bald legte, weil nicht genug Energie vorhanden war, um es aufrechtzuhalten.
Mit seiner Schwester Jennifer verstand Jonathan sich recht gut; sie war acht Jahre älter als er und inzwischen mit einem Verwaltungsbeamten in Ipswich verheiratet. Einmal, als er zusah, wie sie sich über das Bügelbrett beugte, ihr Gesicht jene vertraute Maske leicht verärgerter Konzentration, hätte er gern zu ihr gesagt: »Sprich mit mir. Erzähl mir, was du denkst – über den Tod, über das Böse, über das, was wir hier machen.« Doch ihre Antwort war vorauszusehen: »Ich weiß, was ich hier mache. Ich bügle Dads Hemden.«
Im Gespräch mit Bekannten und all jenen, die sie als Freunde hätte bezeichnen können, nannte die Mutter ihren Mann stets nur »Mr. Reeves«. So sagte sie: »Mr. Wainwright hält sehr viel von Mr. Reeves« oder: »Man könnte natürlich sagen, daß Mr. Reeves die Seele der Teppichabteilung von Hobbs & Wainwright ist«. Die Firma repräsentierte all jene Sehnsüchte, Traditionen und Konventionen, die andere im Beruf, in der Schule, im Regiment oder in ihrem Glauben fanden. Mr. Wainwright sen. war für Jonathans Eltern Schuldirektor, Colonel und Hoherpriester zugleich, und ihre gelegentliche Teilnahme am Sonntagsgottesdienst der United Reform Chapel lediglich eine Geste einem minderen Gott gegenüber. Aber sie gingen nicht regelmäßig zur Kirche. Wie Jonathan argwöhnte, taten sie das absichtlich: damit sie nur ja nicht etwa Leute dort kennenlernten, die sie zu Müttertreffen, Whist-Turnieren, Sonntagsschulausflügen einladen, ja, sie sogar zu Hause besuchen könnten. Am Freitag seiner ersten Woche in der höheren Schule hatte der Klassenrowdy erklärt: »Der Dad von Reeves ist Abteilungsleiter bei Hobbs & Wainwright. Letzte Woche hat er meiner Mum einen Läufer verkauft.« Dann stelzte er, die Hände unterwürfig gefaltet, mit gezierten Schritten auf und ab: »Madam werden feststellen, daß dieses Material überaus strapazierfähig ist. Es wird sehr gern gekauft.« Das kriecherische Gelächter der anderen klang unsicher, und mangels Unterstützung war der Spott sehr schnell versiegt; die meisten Väter übten weit weniger angesehene
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