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Vorsatz und Begierde (German Edition)

Vorsatz und Begierde (German Edition)

Titel: Vorsatz und Begierde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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»meinem innig geliebten Neffen« ihre Gefühle für ihn zutreffend ausdrückten. Er hatte sie gemocht, respektiert, sich in ihrer Gesellschaft wohl gefühlt, sich jedoch nie eingebildet, sie gut zu kennen. Und jetzt würde es nie dazu kommen. Es verwunderte ihn ein wenig, daß ihm das naheging.
    Die einzige Veränderung, die seine Tante an dem Anwesen vorgenommen hatte, war der Bau einer Garage gewesen. Nachdem er den Jaguar entladen und in die Garage gefahren hatte, beschloß er, zur Dachkammer hinaufzusteigen, solange es noch hell war. Der Raum im Erdgeschoß mit den beiden großen Mahlsteinen aus grobkörnigem Granit, die an der Wand lehnten, mit seinem schwachen Geruch nach Mehl, wirkte irgendwie geheimnisvoll auf ihn, als stünde hier die Zeit still, als hätte dieser Ort keinen Zweck, keine Bedeutung mehr, so daß er ihn stets mit einem aufkeimenden Gefühl von Trostlosigkeit betrat. Zu den einzelnen Stockwerken führten nur Leitern. Als er Sprosse um Sprosse nach oben stieg, bildete er sich ein, er sähe seine Tante mit ihren langen, behosten Beinen vor sich, wie sie zur Dachkammer hinaufkletterte. In der Mühle hatte sie nur diesen Raum benützt und ihn mit einem kleinen Schreibtisch und einem Stuhl, der Nordsee zugewandt, sowie einem Telephon und ihrem Feldstecher ausgestattet. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie im Sommer tagsüber und auch abends dasaß, an ihren Beiträgen feilte, die sie hin und wieder ornithologischen Zeitschriften zusandte, wie sie gelegentlich aufblickte, um über die Landzunge hinweg aufs Meer und zum fernen Horizont zu schauen. Er sah ihr zerfurchtes, wettergegerbtes Aztekengesicht mit den zusammengekniffenen Augen vor sich, das graumelierte schwarze Haar, das sie in einem Knoten trug, vernahm wieder ihre Stimme, die ihm von jeher gefallen hatte.
    Jetzt war es später Nachmittag. Die Landzunge lag im sanften Licht der untergehenden Sonne. Das Meer war eine unermeßliche, sich bläulich kräuselnde Fläche, die wie mit einem purpurnen Pinselstrich vom Horizont abgesetzt war. Die letzten noch kräftigen Sonnenstrahlen hoben Farben und Umrisse deutlich hervor, so daß die Ruinen der Abtei vor dem Blau der See einem unwirklichen, golden schimmernden Phantasiegebilde glichen und die Trockengrashorste wie eine üppige Wiese am Wasser schimmerten. Da die Fenster jeweils in eine Himmelsrichtung wiesen und er ja ein Fernglas zur Hand hatte, verschaffte er sich einen Überblick. Im Westen sah er die schmale Straße zwischen dem Röhricht und den Deichen bis hin zu den mit Feldsteinen verkleideten, spitzgiebeligen Cottages und den roten Ziegeldächern von Lydsett und dem Rundturm der St.-Andrew’s-Kirche.
    Die Aussicht nach Norden prägten der riesige AKW-Block, das niedrigere Verwaltungsgebäude und, gleich dahinter, der Reaktorbau und das große, mit Stahlplatten und Aluminium verkleidete Turbinenhaus. Vierhundert Meter seewärts befanden sich die Anlagen, durch die das Kühlwasser zum Pumpwerk geleitet wurde. Er trat ans Ostfenster und schaute auf die Cottages auf der Landspitze hinab. Südlich davon sah er gerade noch das Dach von Scudder’s Cottage. Zu seiner Linken schimmerten die Feldsteinmauern von Martyr’s Cottage wie Kiesel in der Spätnachmittagssonne. Und ein paar hundert Meter nördlich davon, hinter den Kiefern, die diesen Teil der Küste säumten, lag das kastenförmige Haus, das Hilary Robarts gemietet hatte, eine gefällig proportionierte kleine Villa wie in einer Stadtrandsiedlung, die man unpassenderweise auf der öden Landzunge errichtet hatte und die sich dem Festland zuwandte, als wollte sie mit dem Meer nichts zu tun haben. Weiter oben, vom Südfenster aus eben noch zu sehen, war der Alte Pfarrhof, der mit seinem großen, verwilderten Garten – auf diese Entfernung geradezu ein gepflegter Stadtpark – an ein viktorianisches Puppenhaus erinnerte.
    Plötzlich klingelte das Telephon. Die schrillen Töne behagten ihm gar nicht. Schließlich war er nach Larksoken gefahren, um solchen Belästigungen zu entgehen. Trotzdem kam der Anruf nicht unerwartet. Es war Terry Rikkards, der ihm sagte, daß er gern vorbeikommen würde, um mit ihm zu reden, wenn es keine Umstände bereite. Ob ihm 21 Uhr genehm sei? Dalgliesh fiel keine Ausrede ein, warum es ihm nicht genehm sein könnte. Zehn Minuten darauf verließ er den Mühlenturm und verschloß die Tür. Er tat es aus Pietät; seine Tante hatte die Tür stets verschlossen, weil sie befürchtete, Kinder könnten in die

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