Vorsatz und Begierde
natürlich nicht widerspruchslos hinnehmen sollen, nicht eine derartige Rüge, nicht vor den Ohren der ihm untergebenen Polizeibeamten. Er hätte dem arroganten Schwein ins Gesicht sehen und die Wahrheit aussprechen sollen, auch wenn es ihn seine Streifen gekostet hätte.
»Aber jetzt ist sie keine Frau mehr, nicht wahr, Sir? Sie ist kein menschliches Wesen mehr – oder? Und wenn sie nicht menschlich ist, was ist sie dann?«
Es war die Ungerechtigkeit, die so schmerzte. Es gab mindestens ein Dutzend Kollegen, die diesen eiskalten Vorwurf verdient hätten – nur er nicht. Er hatte seit seiner Beförderung zur Kriminalpolizei niemals ein Opfer als elenden Fleischklumpen gesehen, beim Anblick eines nackten Körpers niemals lüsterne, halb beschämende Neugier empfunden, selten auch die am schlimmsten entwürdigten, abstoßendsten Opfer ohne einen Anflug von Mitleid und häufig sogar von Schmerz betrachtet. Seine Worte waren völlig uncharakteristisch für ihn gewesen, aus ihm herausgebrochen aus schierer Hoffnungslosigkeit, aus totaler Übermüdung nach einem Neunzehn-Stunden-Tag, aus unkontrollierbarem körperlichem Ekel. Sein Pech, daß Dalgliesh sie gehört hatte, ein Kriminalbeamter, dessen kalter Sarkasmus verheerender wirken konnte als die gebrüllten Obszönitäten eines anderen Beamten. Sie hatten noch sechs Monate zusammengearbeitet; kein weiteres Wort war zwischen ihnen gefallen. Dalgliesh hatte seine Arbeit offenbar zufriedenstellend gefunden; wenigstens hatte es keine Kritik mehr gegeben. Aber leider auch kein Lob. Rikkards hatte sich seinem Vorgesetzten gegenüber penibel korrekt verhalten; und Dalgliesh hatte getan, als hätte es den Zwischenfall niemals gegeben. Falls er seine Worte später bereute, hatte er nichts davon gesagt; vielleicht hätte er sich sehr gewundert, wenn er erfahren hätte, mit wieviel Bitterkeit, ja fast fanatischem Haß sie aufgenommen worden waren. Nun aber fragte sich Rikkards zum erstenmal, ob Dalgliesh nicht ebenfalls unter Streß gestanden und, von seinen eigenen Furien gejagt, Erleichterung in der Schärfe seiner Worte gefunden hatte. Denn hatte er damals nicht erst kurz zuvor seine Frau und sein neugeborenes Kind verloren? Aber was hatte das mit einer toten Prostituierten in einem Londoner Puff zu tun? Und er als Vorgesetzter hätte es besser wissen müssen. Das war überhaupt der springende Punkt. Er hätte seine Leute besser kennen müssen.
Rikkards hatte das Gefühl, daß es nahezu paranoid sei, sich so lange und so voller Zorn an diesen einen Zwischenfall zu erinnern. Aber der Gedanke an Dalgliesh in seinem Revier hatte das alles wieder zurückgerufen. Inzwischen war ihm Schlimmeres passiert, war schärfere Kritik von ihm hingenommen und wieder vergessen worden. Dies aber vermochte er nicht zu vergessen. Als er, fast gleichrangig mit ihm, Herr im eigenen Revier, in der Mühle von Larksoken am Kaminfeuer saß und Dalglieshs Whisky trank, hatte er das Gefühl gehabt, er könne die Vergangenheit endlich begraben. Nun aber wußte er, daß ihm das unmöglich war. Ohne diese Erinnerung hätten Adam Dalgliesh und er Freunde werden können. So aber respektierte er ihn, bewunderte er ihn, schätzte sein Urteil, vermochte sich in seiner Gegenwart sogar wohl zu fühlen. Aber mögen würde er ihn niemals können.
38
Oliphant wartete, wie verabredet, vor dem Alten Pfarrhof, saß aber nicht im Wagen, sondern lehnte mit überkreuzten Beinen an der Motorhaube und las eine Boulevardzeitung. Der Eindruck, den er vermittelte und ganz zweifellos vermitteln wollte, war der, daß er hier seit zehn Minuten seine Zeit verschwende. Als der Wagen hielt, richtete er sich auf und überreichte Rikkards die Zeitung. Dazu sagte er: »Haben ein bißchen geplaudert, Sir. War ja vermutlich zu erwarten.«
Die Story stand nicht auf dem Titelblatt, beanspruchte aber die beiden Mittelseiten mit dicken, schwarzen Lettern und der Schlagzeile: »Nicht schon wieder!« Verfasser war der Kriminalkorrespondent des Blattes. Rikkards las:
»Heute habe ich erfahren, daß Neville Potter, der Mann, der inzwischen als der Whistler bekannt ist und am Sonntag im Hotel Balmoral, Easthaven, Selbstmord begangen hat, zu Beginn der Nachforschungen von der Polizei vernommen und eliminiert wurde. Die Frage lautet nun: Warum? Die Polizei wußte, welchem Typ der Täter zuzuordnen war. Ein Einzelgänger. Vermutlich unverheiratet oder geschieden. Ungesellig. Ein Mann mit einem Auto und einem Job, der verlangte, daß er
Weitere Kostenlose Bücher