Vorsatz und Begierde
ironisch-ernste Miene. Nein, von Alex würde sie Caroline nichts erzählen. Ein einziges Geheimnis mußte sie einfach für sich behalten. Auf ewig.
Sie dachte an die seltsamen Wege, auf denen sie zu diesem Augenblick, zu diesem Ort gekommen war. Wenn sie ertrank, würde sich, wie man es immer behauptete, ihr ganzes Leben vor ihrem inneren Auge abspulen, in jenem allerletzten, vernichtenden Moment würde alles vorüberziehen, was sie erlebt, gelernt und begriffen hatte. Nun aber sah sie die Vergangenheit als eine Folge von Farbdias, die vorbeiklickten, kurze Bilder, kaum wahrgenommene Gefühle, die schnell wieder verschwanden. Auf einmal begann sie heftig zu zittern. »Ich friere«, klagte sie.
»Ich hab dir gesagt, du sollst dich warm anziehen. Dieser Pullover reicht nicht für eine Bootsfahrt am Abend.«
»Aber ich hab sonst nichts Warmes.«
»Auf der Landzunge? Was trägst du denn im Winter?«
»Manchmal leiht mir Neil seinen Mantel. Wir teilen uns alles. Wer raus muß, darf den Mantel tragen. Wir dachten schon daran, uns von dem Basar im Alten Pfarrhof einen Mantel für mich zu holen.«
Caroline zog ihre Jacke aus. »Hier, häng dir die wenigstens um die Schultern«, sagte sie.
»Nein, nein, die gehört dir. Ich will sie nicht.«
»Zieh sie an!«
»Ich will sie nicht, hab ich gesagt.«
Trotzdem ließ das Mädchen es zu, daß Caroline ihr die Arme in die Ärmel steckte, und stand gehorsam auf, während sie ihr die Jacke zuknöpfte. Dann kauerte sie sich wieder zusammen, verkroch sich fast unter der schmalen Bank, die rings um das Boot verlief, und suchte den Schrecken dieser lautlos heranrollenden Wogen zu verdrängen. Amy hatte das Gefühl, zum erstenmal und mit jedem Nerv die unerbittliche Gewalt der See kennenzulernen. In Gedanken sah sie ihren bleichen, leblosen Körper durch Meilen nasser Finsternis zum Meeresboden sinken, zu den Skeletten längst ertrunkener Seeleute hinab, wo unschuldige Wasserwesen durch die Rippen uralter Schiffe schwänzelten. Und dann wurde der Nebel, weniger dicht inzwischen, aber seltsamerweise um so beängstigender, plötzlich zu einem lebendigen Wesen, das sanft wirbelte und lautlos atmete, das ihr selbst die Luft abdrückte, bis sie aufkeuchte, und in seiner ganzen Schrecklichkeit in jede Pore ihres Körpers drang. Es erschien ihr plötzlich unwahrscheinlich, daß es da irgendwo noch Land gab, erleuchtete Fenster hinter geschlossenen Vorhängen, Licht aus offenen Pubtüren, lachende Stimmen, Menschen, die warm und sicher beisammen saßen. Sie sah den Caravan, wie sie ihn so oft gesehen hatte, wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit aus Norwich zurückkehrte, ein gedrungenes Rechteck aus Holz, das mit der Landzunge verwachsen zu sein schien, das den Stürmen und dem Meer trotzte, sie sah den warmen Schimmer, der aus den Fenstern fiel, den Rauch, der sich aus dem Abzug kräuselte. Sie dachte an Timmy und Neil. Wie lange würde Neil warten, bis er die Polizei anrief? Er war kein Mensch, der übereilt handelte. Schließlich war sie ja kein Kind mehr und hatte jedes Recht, ihn zu verlassen. Vermutlich unternahm er bis zum Morgen gar nichts, und möglicherweise wartete er auch dann noch ab. Aber das spielte keine Rolle. Die Polizei konnte ja doch nichts tun. Niemand außer der traurigen Gestalt am Kai wußte, wo sie waren, und wenn der Mann endlich Alarm schlug, war es zu spät. Es war sogar sinnlos, an die Realität der Terroristen zu glauben. Sie waren hier, einsam und verlassen, mitten in der schwarzen Nässe. Immer weiter würden sie im Kreis fahren, bis es kein Benzin mehr gab und sie aufs Meer hinaustrieben, wo sie dann irgendwann von einem vor der Küste kreuzenden Schiff überrannt wurden. Amy hatte jedes Zeitgefühl verloren. Das rhythmische Geräusch des Motors hatte sie eingelullt – doch nicht in friedlichen Schlaf, sondern in einen dumpfen, schicksalsergebenen Zustand, in dem sie nur noch das harte Holz in ihrem Rücken wahrnahm, und ihre Gefährtin Caroline, die angespannt und reglos im Cockpit stand.
Der Motor erstarb. Sekundenlang herrschte absolute Stille. Während das Boot sanft hin und her schaukelte, hörte Amy das Knarren von Holz, das Klatschen der Wellen. Sie atmete eine erstickend feuchte Luft, spürte, wie die Kälte ihr durch die Jacke bis ins Knochenmark drang. Es schien unmöglich, daß irgend jemand sie in dieser trostlos leeren Wasserwüste fand, und es war ihr inzwischen gleichgültig, ob es gelang.
»Hier ist der Punkt«, erklärte Caroline.
Weitere Kostenlose Bücher