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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Stehen; eine Weile blieb er sitzen und lauschte auf die Stille. All die Gefühle, die er während der vergangenen drei Stunden eisern unter Kontrolle gehabt hatte, brachen erneut über ihn herein, beutelten ihn wie der Wind den Wagen. Er mußte seine Gedanken in den Griff bekommen, Ordnung in diese erstaunlichen Gefühle bringen, die ihn durch ihre Gewalttätigkeit und Irrationalität erschreckten, und ihrer mit Logik Herr werden. War es möglich, daß er tatsächlich Erleichterung über Amys Tod empfand, über eine abgewendete Gefahr, eine vereitelte potentielle Peinlichkeit, und dennoch zugleich von einem Schmerz und Kummer zerrissen wurde, der so überwältigend war, daß es sich nur um Trauer handeln konnte? Er mußte sich zusammenreißen, um nicht mit der Stirn aufs Lenkrad zu hämmern. Sie war so völlig unverkrampft gewesen, so tapfer, so unterhaltsam. Und sie hatte ihm vertraut. Seit dem Nachmittag des Mordsonntags hatte er keinen Kontakt mehr mit ihr gehabt, und sie hatte nicht den Versuch gemacht, ihn telephonisch oder brieflich zu erreichen. Einmütig hatten sie beschlossen, daß ihre Affäre beendet werden mußte und daß beide Schweigen darüber bewahren würden. Sie hatte ihren Teil der Abmachung eingehalten, wie er es nicht anders erwartet hatte. Und nun war sie tot. Verzweifelt sprach er ihren Namen aus: »Amy, Amy, Amy!« Und auf einmal stieg ein so schmerzhaftes Schluchzen in seiner Kehle auf, daß es ihm fast die Brust zerriß, als hätte er einen Herzanfall, und er spürte erleichtert, wie ihm erlösende Tränen über die Wangen liefen. Seit seiner Kindheit hatte er nicht mehr geweint, und als nun die Tränen flossen wie Regen und er überrascht ihre salzige Nässe auf den Lippen schmeckte, sagte er sich, daß dieser Gefühlsausbruch wohltuend und heilend sei. Er war ihn ihr schuldig, und nachdem er ihr diesen Tribut der Trauer gezollt hatte, würde er in der Lage sein, sie aus seiner Erinnerung zu verbannen, wie er sie aus seinem Herzen hatte verbannen wollen. Erst dreißig Minuten später, als er den Motor wieder anließ, fiel ihm wieder der Krankenwagen ein, und er fragte sich, welcher der wenigen Bewohner der Landzunge ins Krankenhaus gebracht worden sei.

50
    Als die beiden Sanitäter die Tragbahre den Gartenweg entlangrollten, zerrte der Wind an der Ecke der roten Wolldecke und blies sie auf wie einen Ballon. Zwar hielten die Gurte sie nieder, doch Blaney warf sich dennoch so heftig über Theresas Körper, daß es den Anschein hatte, als versuche er verzweifelt, sie vor etwas weitaus Bedrohlicherem zu schützen als nur dem Wind. Seitwärts gehend wie ein Krebs und halb gebückt, schob er sich neben ihr den Weg entlang und hielt unter der Decke ihre Hand. Sie war heiß und feucht, und so klein, daß er vermeinte, jeden einzelnen zierlichen Knochen zu spüren. Er wollte ihr Trost zuflüstern, aber die Angst hatte seine Kehle ausgetrocknet, und als er zu sprechen versuchte, zitterte sein Kinn wie das eines Greises. Dabei hätte er gar keine tröstenden Worte gefunden. Zu deutlich erinnerte er sich an einen anderen Krankenwagen, an eine andere Tragbahre, an eine andere Fahrt. Er wagte Theresa kaum anzublicken, so sehr fürchtete er sich davor, in ihrem Gesicht dasselbe zu sehen wie damals im Gesicht ihrer Mutter: diesen Ausdruck bleicher, entrückter Hinnahme, der bedeutete, daß sie sich bereits von ihm entfernte, von den irdischen Problemen des Lebens, sogar von seiner Liebe, um in ein Schattenland hinüberzugleiten, in das er ihr nicht zu folgen vermochte und wo er nicht willkommen war. Krampfhaft versuchte er in dem Gedanken an Dr. Entwhistles robuste Stimme Beruhigung zu finden.
    »Sie wird wieder gesund. Es ist eine einfache Blinddarmentzündung. Wir werden sie sofort ins Krankenhaus bringen. Dort wird sie heute abend noch operiert und kann im günstigsten Fall in ein paar Tagen schon wieder zu Hause sein. Natürlich nicht, um die Hausarbeit zu verrichten; darüber werden wir uns später unterhalten. Vorerst werden wir mal telephonieren. Und geraten Sie nicht in Panik, Mann! An einer Blinddarmentzündung stirbt man nicht.«
    Aber es gab doch Menschen, die daran starben. Sie starben in der Narkose, sie starben an Bauchfellentzündung, sie starben, weil der Chirurg einen Fehler machte. Er hatte von derartigen Fällen gelesen. Er hatte keine Hoffnung mehr.
    Während die Tragbahre vorsichtig angehoben und in den Krankenwagen verfrachtet wurde, wandte er sich um und blickte zu Scudder’s

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