Vorsatz und Begierde
hatte, der neueste H. R. F. Keating. Sowohl er selbst als auch Dorothy Copley lasen mit Vorliebe Krimis, und Meg ärgerte sich ein wenig darüber, daß Ehemann und Ehefrau es beide für selbstverständlich hielten, daß er die Bücher immer als erster las. Diese unzeitige Erinnerung an seine gemäßigte Selbstsucht in der Ehe gewann sekundenlang eine so unangemessen große Bedeutung, daß sie sich fragte, wie sie jemals darauf gekommen war, daß ausgerechnet er ihr helfen könne. Doch war es richtig, ihn wegen der ehelichen Prioritäten zu kritisieren, die Dorothy Copley persönlich gesetzt und über dreiundfünfzig Jahre lang liebevoll gehegt hatte? Ich konsultiere jetzt den Pfarrer und nicht den Mann, ermahnte sie sich streng. Ich würde ja auch keinen Klempner fragen, wie er Frau und Kinder behandelt, bevor ich ihn auf das Leck im Boiler ansetze.
Er deutete auf einen zweiten Lehnsessel, den sie sich heranzog, um ihm gegenüber Platz zu nehmen. Sorgfältig markierte er die Seite im Buch mit seinem Lesezeichen aus Leder, legte den Band so behutsam nieder, als handele es sich um ein Gebetbuch, und faltete die Hände darüber. Ihr schien es ein Akt bewußter Konzentration zu sein, als er sich vorbeugte und den Kopf leicht zur Seite neigte; er wirkte aufmerksam, wie in einem Beichtstuhl. Aber sie hatte ihm nichts zu beichten, sie hatte lediglich eine Frage an ihn, die in ihrer krassen Simplizität mitten ins Herz ihres orthodoxen, selbstverständlichen, aber nicht blinden Christenglaubens zu zielen schien: »Wenn wir vor einer Entscheidung stehen, einem Dilemma – woher wissen wir, was richtig ist?«
Sie glaubte in seiner sanften Miene ein Nachlassen der Spannung zu entdecken, als sei er dankbar dafür, daß dies eine weniger schwierige Frage war, als er befürchtet hatte. Aber er nahm sich Zeit, bevor er antwortete.
»Das wird uns unser Gewissen sagen, wenn wir darauf hören.«
»Diese ruhige, leise Stimme, ähnlich der Stimme Gottes?«
»Nicht ähnlich, Meg. Das Gewissen ist die Stimme Gottes, die Stimme des innewohnenden Heiligen Geistes. Im Pfingstgebet bitten wir deshalb auch um ein gerechtes Urteil in allen Dingen.«
»Aber wie«, fuhr sie sanft, doch hartnäckig fort, »können wir sicher sein, daß wir nicht nur die eigene Stimme hören, die Stimme unserer eigenen unbewußten Wünsche? Die Antwort, auf die wir so aufmerksam lauschen, muß doch durch unsere eigenen Erfahrungen, unsere Persönlichkeit, unser Erbe, unsere innersten Bedürfnisse beeinflußt sein. Können wir uns niemals von den eigenen Wünschen und Vorstellungen befreien? Wäre es möglich, daß das Gewissen uns nur das rät, was wir am liebsten hören wollen?«
»Das entspricht nicht meiner Erfahrung. Das Gewissen hat mich gewöhnlich zu Entscheidungen geführt, die meinen eigenen Wünschen zuwiderliefen.«
»Oder dem, was Sie zu jener Zeit für Ihre eigenen Wünsche hielten.«
Damit setzte sie ihm jedoch allzu hart zu. Er saß still da, suchte möglicherweise Rat bei alten Predigten, alten Moralvorstellungen, vertrauten Lehrtexten. Eine kurze Pause entstand; dann sagte er: »Ich habe es immer hilfreich gefunden, mir das Gewissen als ein Instrument vorzustellen, ein Saiteninstrument etwa. Die Botschaft liegt in der Musik, doch wenn wir das Instrument nicht instand halten und uns ständig daran üben, bekommen wir nur eine sehr unzulängliche Reaktion.«
Sie erinnerte sich, daß er früher Geige gespielt hatte. Jetzt waren seine Hände zu sehr von Rheuma geplagt, um das Instrument zu halten, aber es lag noch immer auf der Kommode in der Ecke. Die Metapher mochte ihm etwas bedeuten, für Meg ergab sie keinen Sinn.
»Aber«, wandte sie ein, »wenn mir mein Gewissen sagt, was richtig ist – ich meine, nach den Moralgesetzen oder sogar den Gesetzen des Landes –, bedeutet das doch nicht, daß ich keine Verantwortung mehr trage. Angenommen, ich gehorche meinem Gewissen und tue, was es mir sagt, bewirke aber dadurch, daß jemand anders zu Schaden kommt, ja sogar in Gefahr gerät?«
»Wir müssen das tun, was wir für richtig halten, und die Folgen Gott überlassen.«
»Aber jeder Mensch, der eine Entscheidung trifft, muß doch an die eventuellen Folgen denken! Das ist es doch, was der Begriff Entscheidung bedeutet. Wie können wir Ursache und Wirkung trennen?«
»Würde es Ihnen helfen, wenn Sie mir sagen, was Sie quält? Das heißt natürlich, falls Ihnen das möglich ist.«
»Ich würde Ihnen statt dessen lieber ein Beispiel
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