Vorsatz und Begierde
geben. Angenommen, mir ist bekannt, daß jemand seinen Arbeitgeber regelmäßig bestiehlt. Wenn ich ihn anzeige, wird er gefeuert, seine Ehe wird gefährdet, Frau und Kinder zutiefst verletzt. Möglicherweise habe ich das Gefühl, daß der Laden oder die Firma ein paar Pfund Verlust pro Woche eher verkraften könnte als unschuldige Menschen soviel Leid.«
Einen Augenblick schwieg Mr. Copley; dann sagte er: »Das Gewissen würde Ihnen möglicherweise raten, lieber mit dem Dieb zu sprechen als mit seinem Arbeitgeber. Ihm zu erklären, daß Sie alles wissen, und ihn zu überreden, damit aufzuhören. Das Geld müßte natürlich zurückerstattet werden. Daß das ein Problem darstellen könnte, ist mir bewußt.«
Sie sah zu, wie er das Problem mit gerunzelter Stirn erwog, sich den erfundenen diebischen Familienvater vorzustellen suchte. Dann sagte sie: »Aber wenn er nun mit den Diebstählen nicht aufhören will oder kann?«
»Nicht kann? Wenn das Stehlen für ihn ein unwiderstehlicher Zwang ist, braucht er natürlich ärztliche Hilfe. Ja natürlich, das müßte man versuchen. Obwohl ich selbst, was den Erfolg einer Psychotherapie betrifft, nicht besonders optimistisch bin.«
»Das also zum Nicht-Wollen. Was aber, wenn er aufzuhören verspricht und trotzdem weiterstiehlt?«
»Dennoch müssen Sie genau das tun, was Ihnen Ihr Gewissen befiehlt. Die Folgen können wir nicht immer absehen. In dem Fall, den Sie mir schildern, würde es Mitschuld für Sie bedeuten, wenn Sie das Stehlen weitergehen lassen. Sobald Sie sehen, was da vorgeht, können Sie nicht mehr so tun, als wüßten Sie von nichts, und Sie können sich nicht vor der Verantwortung drücken. Wissen bedeutet Verantwortung; das gilt für Alex Mair im Kraftwerk Larksoken genauso wie hier in diesem Arbeitszimmer. Sie sagten, daß Kinder in Mitleidenschaft gezogen würden, wenn Sie die Wahrheit sagten; diese Kinder sind schon jetzt von der Unehrlichkeit des Vaters in Mitleidenschaft gezogen, ebenso wie die Ehefrau, die davon profitiert. Dann gibt es da noch die anderen Angestellten: Möglicherweise werden sie zu Unrecht verdächtigt. Diese Unehrlichkeit könnte sich, falls nicht aufgedeckt, sogar so schlimm auswirken, daß Frau und Kinder letzten Endes noch schlechter dran sind, als wenn ihr jetzt Einhalt geboten wird. Deswegen ist es sicherer, wenn wir uns darauf beschränken, das zu tun, was rechtens ist, und die Folgen dem lieben Gott überlassen.«
»Selbst wenn wir nicht sicher sind, daß ER noch existiert?« wollte sie ihm entgegnen. »Selbst wenn sich das nur als eine weitere Möglichkeit darstellt, sich vor der persönlichen Verantwortung zu drücken, der wir, wie Sie mir gerade erzählt haben, nicht ausweichen können und sollten?« Aber sie sah, daß er auf einmal sehr müde wirkte, und ihr entging auch nicht der flüchtige, verstohlene Blick, den er auf sein Buch warf.
Er wollte zu Inspector Ghote zurückkehren, Keatings sanftem Detektiv, der trotz all seiner Zweifel letztlich ans Ziel gelangte, weil das ein Roman war: ein Roman, in dem Probleme gelöst, das Böse besiegt, der Gerechtigkeit zum Triumph verholfen wurde und der Tod ein Geheimnis war, das im letzten Kapitel ebenfalls gelöst werden würde. Copley war ein sehr alter Mann. Es war unfair, ihn zu belästigen. Am liebsten hätte sie ihm die Hand auf den Arm gelegt und ihm gesagt, daß alles in Ordnung sei, er brauche sich keine Sorgen zu machen. Statt dessen erhob sie sich und nahm Zuflucht zu einer Lüge, um ihn zu beruhigen. Dabei benutzte sie, zum erstenmal die Anrede, die ihr eigentlich selbstverständlich war.
»Danke, Vater, Sie haben mir sehr geholfen. Jetzt ist mir alles sehr viel klarer. Und ich weiß, was ich zu tun habe.«
52
Meg war jede Biegung und jedes Hindernis auf diesem überwucherten Feldweg zum Tor der Landzunge so vertraut, daß sie zur Orientierung den zittrigen Lichtkegel ihrer Taschenlampe kaum brauchte, und auch der in Larksoken ständig unberechenbare Wind schien sich inzwischen ausgetobt zu haben. Als sie jedoch eine kleine Anhöhe erreichte und das Licht über der Tür von Martyr’s Cottage in Sicht kam, wurde er plötzlich wieder stärker und fiel über sie her, als wolle er sie vom Erdboden wegreißen und wie ein Wirbelwind in die Geborgenheit und den Frieden des Alten Pfarrhofs zurücktragen. Ohne gegen den Wind anzukämpfen, bot sie ihm doch größtmöglichen Widerstand, stemmte sich mit gesenktem Kopf, das Kopftuch mit beiden Händen festhaltend, dagegen,
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