Vorsatz und Begierde
sieht dir gar nicht ähnlich, unaufgefordert ins Haus zu kommen – jedenfalls nicht, solange ich nicht da bin. Das hast du bis dahin noch nie getan.«
»Aber ich wußte nicht, daß du nicht da warst. Die Lichter brannten, ich klingelte, und ich hörte Musik. Als ich zum drittenmal klingelte und du noch immer nicht kamst, fürchtete ich, du könntest krank sein, nicht in der Lage, Hilfe zu rufen. Deswegen hab ich die Tür aufgeschlossen. Um mich herum wogte eine wundervolle Musik. Ich habe sie erkannt: Mozarts Symphonie g-Moll. Das war Martins Lieblingsmusik. Merkwürdig, ausgerechnet dieses Band auszuwählen!«
»Ich hab’s nicht gewählt. Ich habe einfach das Gerät eingeschaltet. Was hätte ich deiner Ansicht nach wählen sollen? Ein Requiem für das Hinscheiden einer Seele, an deren Existenz ich nicht glauben kann?«
Als hätte sie nichts gehört, fuhr Meg fort: »Ich ging in die Küche. Auch dort brannte Licht. Zum erstenmal war ich in diesem Raum allein. Und plötzlich fühlte ich mich wie eine Fremde. Ich spürte, daß nichts darin etwas mit mir zu tun hatte. Ich spürte, daß ich kein Recht hatte, dort zu sein. Das ist der Grund, warum ich gegangen bin, ohne dir eine Nachricht zu hinterlassen.«
»Du hattest ganz recht«, gab Alice traurig zurück. »Du hattest kein Recht, hier zu sein. Und du wolltest mich so dringend sehen, daß du allein über die Landzunge kamst, bevor du wußtest, daß der Whistler tot war?«
»Ich hatte keine Angst. Die Landzunge ist so öde. Da gibt es keine Möglichkeit, jemandem aufzulauern, und außerdem wußte ich ja, sobald ich Martyr’s Cottage erreicht hatte, würde ich bei dir sein.«
»Nein, du hast nicht so leicht Angst, nicht wahr? Hast du jetzt Angst?«
»Nicht vor dir, sondern vor mir. Ich habe Angst vor dem, was ich denke.«
»Das Haus war also leer. Was gibt es sonst noch? Offenbar gibt es da noch etwas.«
»Die Nachricht auf deinem Anrufbeantworter«, sagte Meg.
»Wenn du sie wirklich um zehn nach 8 erhalten hättest, hättest du den Bahnhof in Norwich angerufen und mir ausrichten lassen, daß ich dich zurückrufen soll. Du wußtest, wie ungern die Copleys zu ihrer Tochter gefahren sind. Niemand sonst auf der Landzunge wußte davon. Die Copleys sprachen niemals darüber, und ich auch nicht – nur mit dir. Du hättest angerufen, Alice. Du hättest mich über den Bahnhofslautsprecher ausrufen lassen, und ich hätte sie wieder nach Hause zurückfahren können. Daran hättest du bestimmt gedacht.«
Alice sagte: »Eine Lüge Rikkards gegenüber, die dem Wunsch entsprungen sein könnte, Ärger zu vermeiden, und eine gedankenlose Unterlassungssünde. Ist das alles?«
»Das Messer. Das mittlere Messer aus deinem Block. Es war nicht da. Damals hatte das natürlich keine Bedeutung, aber der Block wirkte verändert. Ich war so sehr daran gewöhnt, fünf sorgfältig der Größe nach geordnete Messer zu sehen, jedes in seinem Schlitz. Jetzt ist es wieder da. Als ich am Montag nach dem Mord herkam, war es wieder da. Am Sonntag abend aber war es nicht da.«
Am liebsten hätte Meg laut aufgeschrien: »Du kannst es nicht noch einmal benutzen, Alice! Bitte, benutz es nicht!« Statt dessen zwang sie sich, weiterzusprechen, versuchte, ruhig zu bleiben, versuchte, nicht um Beteuerungen, Verständnis zu betteln.
»Und als du am nächsten Morgen anriefst, um mir zu sagen, Hilary sei tot, habe ich nichts von meinem Besuch erwähnt. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Nicht, daß ich dich verdächtigt hätte; das wäre mir unmöglich gewesen und ist es noch. Aber ich brauchte Zeit zum Nachdenken. Erst am späten Vormittag konnte ich mich überwinden, zu dir zu kommen.«
»Und dann fandest du mich hier mit Chief Inspector Rikkards und hörtest mich lügen. Und hast gesehen, daß das Messer wieder an seinem Platz war. Aber du hast damals nichts gesagt, und du hast seither nichts gesagt, wie ich vermute, nicht einmal zu Adam Dalgliesh.«
Das war ein kluger Schachzug. »Ich habe niemandem etwas davon gesagt«, erklärte Meg. »Das konnte ich nicht. Erst mußte ich mit dir sprechen. Ich wußte, daß du einen in deinen Augen guten Grund für diese Lüge haben mußtest.«
»Und dann wurde dir vermutlich langsam, möglicherweise widerstrebend klar, was dieser Grund sein mochte?«
»Ich glaubte nicht etwa, daß du Hilary ermordet hättest. Es klingt phantastisch, ja absurd, diese Worte auch nur auszusprechen, dich zu verdächtigen. Aber das Messer fehlte, und du warst
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