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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Handtuch unter ihr hervorziehen werde?
    »Nein, tut mir leid«, entgegnete er. »Wir dürfen an ihr nichts verändern.«
    »Aber das hier hat doch der Whistler getan. Das ist unverkennbar. Sie haben’s ja selbst gesagt.«
    »Der Whistler ist ein Mörder wie viele andere auch. Auch er hinterläßt Spuren am Tatort, die als Beweismittel dienen können. Er ist nur ein Mensch, keine Naturgewalt.«
    »Wann wird die Polizei endlich eintreffen?«
    »Lange kann es nicht mehr dauern. Ich habe zwar mit Rikkards nicht gesprochen, aber man wird ihn benachrichtigen. Sie können ruhig gehen, ich werde warten. Sie können ohnehin nichts tun.«
    »Ich bleibe, bis man sie fortbringt.«
    »Wenn der Polizeiarzt nicht verfügbar ist, kann es noch eine Weile dauern.«
    »Dann warte ich eben so lange.«
    Wortlos wandte Mair sich ab und ging parallel zu Dalglieshs Fußabdrücken zum Meer. Dalgliesh schlenderte zum Kiesstreifen hinüber und setzte sich. Die Arme vor den Knien verschränkt, betrachtete er Mairs hochgewachsene Gestalt, die entlang des Wassersaums unentwegt hin und her ging. Sollten an seinen Schuhsohlen irgendwelche aufschlußreichen Spuren gewesen sein, so waren sie nun verloren. Aber solche Gedanken waren abwegig. Die Tote konnte nur vom Whistler, nicht aber von einem anderen Mörder so zugerichtet worden sein. Weswegen war Dalgliesh dann aber so unschlüssig? Wieso hatte er das ungute Gefühl, daß alles nicht so eindeutig war, wie es auf den ersten Blick aussah? Er setzte sich bequemer hin und machte sich auf eine längere Wartezeit gefaßt. Das kalte Mondlicht, das unaufhörliche Rauschen des Meeres, das Gefühl, daß hinter ihm eine Tote lag, versetzten ihn in eine melancholische Stimmung. Gedanken an den Tod, auch an seinen, stellten sich ein. Timor mortis conturbat me. In unserer Jugend neigen wir zur Tollkühnheit, weil wir den Tod nicht kennen, dachte er. Die Jugend schmückt sich mit Unsterblichkeit. Erst im mittleren Alter wird uns die Vergänglichkeit des Lebens bewußt. Aber die Angst vor dem Tode, wie irrational sie sich auch immer äußern mochte, war ganz natürlich, ob nun der Tod das endgültige Aus oder der Eintritt in eine andere Existenzform war. Jede Körperzelle war auf Leben programmiert. Alle gesunden Geschöpfe hingen bis zum letzten Atemzug am Leben. Mit der allmählich wachsenden Erkenntnis, der Widersacher aller Sterblichen könnte zuletzt als Freund kommen, fand man sich nur schwer ab, mochte sie noch so tröstlich sein. Was sein Metier so anziehend machte, war vielleicht die Tatsache, daß der Prozeß der Verbrechensaufdeckung dem Tod eines Menschen eine gewisse Würde verlieh, selbst dem Ableben eines nichtsnutzigen, erbärmlichen Subjekts. Die beharrliche Suche nach Spuren und Motiven spiegelte die Faszination wider, die das Mysterium der eigenen Sterblichkeit ausübte. Zugleich verschaffte sie einem die beschwichtigende Illusion von einer Welt, der eine Moral zugrunde lag, in der Unschuld erwiesen werden konnte, in der das Recht durchgesetzt und die Ordnung wiederhergestellt wurde. Aber eigentlich ließ sich nichts wiederherstellen, schon gar nicht das Leben. Und man konnte nur dem ohnehin bedenklichen Gerechtigkeitssinn der Menschen Genüge tun. Dalglieshs Beruf übte auf ihn eine Faszination aus, die über die damit verbundene intellektuelle Beanspruchung hinausging, die stärker war als sein Drang nach einem Privatleben. Aber inzwischen hatte er genug Geld geerbt, um seinen Job an den Nagel hängen zu können. Hatte seine Tante in ihrem unmißverständlichen Testament etwa darauf abgezielt? Hatte sie ihm signalisieren wollen: Mit all dem Geld ist nun jede Beschäftigung, die Dichtkunst ausgenommen, unnötig geworden? Wäre es da nicht an der Zeit, sich endgültig zu entscheiden?
    Das hier war nicht sein Fall. Diesen Fall mußte er nicht bearbeiten. Aus Gewohnheit überlegte er aber, wann die Polizei eintreffen könnte. Nach fünfunddreißig Minuten hörte er im Kiefernwald Geräusche. Sie kamen auf dem Weg, den er ihnen angegeben hatte, und waren nicht gerade leise. Rikkards erschien als erster. Ihm folgten ein jüngerer, breitschultriger Beamter und vier weitere Polizisten, die an ihren Gerätschaften schwer zu tragen hatten. Dalgliesh erhob sich, um ihnen entgegenzugehen. Rikkards nickte ihm zu und stellte seinen Sergeanten vor, der Stuart Oliphant hieß.
    Zusammen gingen sie zu der Leiche und blickten auf die sterblichen Überreste von Hilary Robarts hinab. Rikkards atmete schwer, als

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