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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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konnte er, wenn er zügig ging, bei der Mühle sein. Das nächste Telephon war zwar sicherlich in Hilary Robarts’ Cottage, doch ihr Haus war wahrscheinlich verschlossen, und er wollte sich nicht gewaltsam Zutritt verschaffen. Das Haus des Opfers mußte ebenso unberührt bleiben wie der Tatort. Andererseits hatte er neben der Leiche keine Handtasche liegen sehen; da waren nur die Sandalen und die Taschenlampe, der Trainingsanzug und das leuchtend rotblau gestreifte Handtuch gewesen. Vielleicht hatte die Robarts den Hausschlüssel daheim gelassen, das Haus gar nicht verschlossen. Hier auf der Landzunge machte man sich keine Gedanken, wenn man das Haus nach dem Dunkelwerden einmal für eine halbe Stunde unverschlossen ließ. Die paar Minuten Zeit, um das festzustellen, konnte er in jedem Fall erübrigen.
    Wenn er Thyme Cottage von einem Fenster der Mühle aus betrachtet hatte, war es ihm stets als das reizloseste Domizil auf der Landzunge vorgekommen. Es war dem Landesinneren zugewandt, ein kastenförmiges, lieblos gestaltetes Haus mit einem gepflasterten Innenhof statt einem Garten, mit übergroßen Fenstern aus modernem Glas, die es um den altmodischen Charme gebracht hatten, den es vielleicht einmal besessen haben mochte. Es paßte mit seinem modernen Aussehen eher in eine Stadtrandsiedlung als auf diese meerumtoste, abgelegene Landzunge. Auf drei Seiten standen die Kiefern so dicht, daß sie fast die Hausmauern streiften. Manchmal hatte er sich gefragt, warum Hilary Robarts ausgerechnet hier hatte wohnen wollen, mochte das Haus auch noch so nahe beim AKW liegen; nach der Dinnerparty bei Alice Mair glaubte er den Grund zu kennen.
    Im Erdgeschoß brannten sämtliche Lampen. Gemeinhin wäre das ein beruhigendes Anzeichen von Leben gewesen, von Normalität, von Gastfreundschaft, als wäre das Haus Zufluchtsort vor den atavistischen Ängsten, die der herandrängende Wald, die leere, mondbeschienene Landzunge auslösen konnten. Nun aber verstärkten die hellen, vorhanglosen Fenster Dalglieshs Beklommenheit.
    Jemand war vor ihm dagewesen. Er schwang sich über die niedrige Feldsteinmauer und sah, daß die Scheibe des großen Fensters nahezu eingeschlagen war. Kleine Glassplitter schimmerten wie Straß auf dem mit Kopfsteinen gepflasterten Innenhof. Er schaute zwischen den verbliebenen zackigen Glasstücken hindurch in das hell erleuchtete Wohnzimmer. Der Teppich war übersät mit Glasscherben, die im grellen Licht funkelten. Man konnte deutlich erkennen, daß das Fenster von außen eingeschlagen worden war. Vor ihm lag, die Bildseite nach oben, das in Öl gemalte Porträt von Hilary Robarts. Zwei Schnitte, die fast bis zum Rahmen reichten und sich rechtwinkelig trafen, bildeten den Buchstaben L.
    Dalgliesh sah nicht nach, ob die Haustür verschlossen war. Wichtiger war jetzt, am Tatort keine Spuren zu verwischen, als zehn oder fünfzehn Minuten eher die Polizei zu benachrichtigen. Hilary Robarts war tot; schnelles Handeln war angebracht, aber es durfte auch nichts überstürzt werden. Er kehrte zur Straße zurück und ging mit raschen Schritten zur Mühle. Doch dann hörte er das Geräusch eines näherkommenden Wagens. Als er sich umsah, erblickte er die Scheinwerfer eines aus nördlicher Richtung heranfahrenden Autos. Es war Alex Mairs BMW. Dalgliesh blieb mitten auf der Fahrbahn stehen und schwenkte seine Stableuchte. Der Wagen wurde abgebremst und rollte aus. Alex Mair streckte den Kopf aus dem offenen rechten Fenster. Sein Gesicht sah im Mondlicht fahl aus. Er musterte ihn eindringlich, aber ohne zu lächeln, als sei diese zufällige Begegnung ein konspiratives Treffen.
    »Ich habe eine schlimme Nachricht für Sie«, sagte Dalgliesh.
    »Hilary Robarts ist ermordet worden. Ich habe sie gefunden. Jetzt müßte ich dringend telephonieren.«
    Die Hand, die lässig das Steuerrad umklammert hatte, verkrampfte und entspannte sich. Die auf den Kommissar gerichteten Augen bekamen einen wachsamen Ausdruck. Als Alex Mair sprach, klang seine Stimme beherrscht; nur durch die unwillkürliche Anspannung der Handmuskeln hatte er seine Betroffenheit verraten.
    »Der Whistler?« fragte er.
    »Sieht so aus.«
    »Ich habe ein Telephon im Wagen.«
    Ohne ein weiteres Wort öffnete er die Tür, stieg aus und trat zur Seite. Es dauerte eine Weile, bis Dalgliesh mit Rikkards Büro verbunden wurde. Da Rikkards nicht anwesend war, hinterließ er eine Nachricht und legte auf. Alex Mair hatte sich indes gut dreißig Meter vom Wagen entfernt und

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