Vorsatz und Begierde
allabendliches Bad im Meer genommen hatte. Die Fußspuren waren noch unverwischt; sie mußte den Strand vor etwa anderthalb Stunden verlassen haben. In einer windstillen Nacht blieben Fußabdrücke lange Zeit frisch. Vor ihm lag der Pfad, der ihn vom mondhellen Strand in den Baumschatten des Kiefernwäldchens brachte. Auf einmal wurde es dunkler. Eine niedrige, blauschwarze Wolke mit gezacktem, silbrigem Rand zog am Mond vorüber.
Er knipste seine Taschenlampe an und richtete sie auf den Weg. Zu seiner Linken schimmerte etwas – eine Zeitung, ein Taschentuch, eine weggeworfene Papiertüte – weißlich auf. Neugierig wich er vom Weg ab, um nachzuschauen. Und da sah er sie. Ihr verzerrtes Gesicht starrte ihn an wie eine Fratze aus einem Alptraum. Sie lag in einer von Strandhafer gesäumten flachen Mulde. Die Gräser waren so hoch, daß er die Einzelheiten erst sah, als er vor ihr stand. Rechts neben ihr erblickte er ein zerknittertes, rot-blau gestreiftes Handtuch, oberhalb davon ein Paar Sandalen und eine Taschenlampe. Gleich daneben lag ein blau-weißer Trainingsanzug. Anscheinend waren es dessen weiße Streifen, die ihm aufgefallen waren. Hilary Robarts lag auf dem Rücken, den Kopf zurückgeworfen, die toten Augen starr auf ihn gerichtet, als flehte sie ihn stumm an. Ein Haarbüschel war unter die Oberlippe gestopft, was ihr das Aussehen eines zähnefletschenden Kaninchens gab. Ein einzelnes schwarzes Haar klebte auf ihrer Wange. Dalgliesh verspürte den nahezu unwiderstehlichen Drang, sich neben sie zu knien, um es zu entfernen. Sie trug nur ein schwarzes Bikinihöschen, das bis zum Oberschenkel herabgezogen war. Deutlich konnte man sehen, wo das Haarbüschel abgeschnitten worden war. Der in die Stirnhaut eingeritzte Buchstabe L bestand aus zwei dünnen, messerschmalen Schnitten, die sich rechtwinklig trafen. Zwischen den abgeflachten Brüsten mit ihren dunklen Höfen und den aufgerichteten Brustwarzen – die Haut hob sich milchweiß von den gebräunten Armen ab – ruhte ein schlüsselförmiges Metallmedaillon, das an einem Lederriemen hing. Gerade als er den Lichtkegel seiner Tachenlampe über die Leiche hinweggleiten ließ, um sie genauer zu betrachten, schob sich der Mond aus der Wolke, und es wurde beinahe taghell.
Dalgliesh war schaurige Augenblicke gewöhnt. Er wußte, wozu Menschen aus Grausamkeit, Aggressivität oder Verzweiflung fähig waren. Aber er war zu empfindsam, um einen entstellten Toten mit kühler Gelassenheit zu mustern. Zu schaffen gemacht hatte ihm diese Empfindsamkeit allerdings nur bei seinem letzten Fall; dabei war er im Fall »Paul Berowne« wenigstens nicht unvorbereitet an den Tatort gerufen worden. Dies hier war dagegen das erste Mal, daß er selbst eine ermordete Frau entdeckte.
Er kniete sich neben sie und berührte ihren Oberschenkel. Er war eiskalt und fühlte sich an, als bestünde er aus einer prall mit Luft gefüllten Kunststoffhaut. Wenn er einen Finger fest hineindrückte, würde eine Vertiefung zurückbleiben. Behutsam strich er über ihr Haar. An den Wurzeln war es noch feucht, die Spitzen hingegen waren trocken. Es war eine warme Septembernacht. Er schaute auf seine Armbanduhr: 22 Uhr 33. Er entsann sich, daß jemand gesagt hatte – wer und wann war es doch gleich gewesen? –, Hilary Robarts habe die Angewohnheit, kurz nach 9 Uhr abends im Meer zu schwimmen. Alle Anzeichen sprachen dafür – und er selbst hielt es auch für wahrscheinlich –, daß seit ihrem Tod kaum zwei Stunden vergangen sein konnten.
Im Sand hatte Dalgliesh nur seine und ihre Fußabdrücke gesehen. Es war Ebbe. Um 9 Uhr mußte Flut gewesen sein. Da jedoch der obere Bereich des Strandes trocken war, konnte das Wasser die Mulde, wo die Leiche lag, nicht erreicht haben. Wie Hilary Robarts hatte der Mörder wahrscheinlich den Pfad durch das Wäldchen benützt und ihr, hinter den Bäumen verborgen, aufgelauert. Auch auf dem mit Kiefernnadeln bedeckten Boden waren höchstwahrscheinlich keine Fußabdrücke zurückgeblieben, aber man mußte ihn dennoch möglichst unberührt lassen. Dalgliesh entfernte sich vorsichtig von der Leiche und ging dann auf dem kiesigen Teil des Strandes gut zwanzig Meter in südlicher Richtung weiter. Beim Licht seiner Taschenlampe schlüpfte er durch die dicht stehenden Kiefern, wobei hin und wieder einer der unteren dürren Äste abbrach. Hier war bestimmt in letzter Zeit niemand durchgekommen. Nach einigen Minuten erreichte er die Straße. In zehn Minuten
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