Vorsicht, frisch verliebt
über eine Reihe kleiner Nebenstraßen, vorbei an malerischen kleinen Bauernhäusern nach Osten in Richtung der Täler des Chianti. In der Nähe von Radcla setzte er sich eine Baseballmütze und seine schrille Sonnenbrille auf und überließ Isabel das Reden, als sie an einem kleinen Weingut hielten, um dort an einem Tisch im Schatten eines Granatapfelbaumes zwei Gläser der 99er Reserve zu kosten.
Anfänglich achtete niemand aus der kleinen Touristengruppe am Nebentisch auf sie, dann jedoch stand eine junge Frau mit Silberohrringen und einem University-of-Massachusetts-T-Shirt, wenn auch ein wenig zögernd, auf und kam langsam auf sie zu. Ren schnaubte leise, doch es stellte sich heraus, dass er mit der Mütze und der Sonnenbrille tatsächlich gut getarnt war - denn sie würdigte ihn keines Blickes und wandte sich stattdessen an den Menschen, in dessen Begleitung er hier saß.
»Entschuldigung. Sind Sie nicht Dr. Isabel Favor?«
Urplötzlich hatte er das Bedürfnis, Isabel zu schützen, doch sie nickte freundlich und unbeeindruckt.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass Sie es wirklich sind«, meinte die junge Frau. »Entschuldigung, wenn ich Sie störe, aber ich habe einen Ihrer Vorträge an der Uni gehört und habe alle Ihre Bücher und wollte Ihnen nur sagen, dass mir Ihre Philosophie während der Chemotherapie eine große Hilfe gewesen ist.«
Jetzt erst fiel Ren auf, wie schmal und bleich die junge Frau war, und etwas in seinem Innern zog sich beinahe wehmütig zusammen, als er Isabels weichen Gesichtsausdruck sah und an die Kommentare dachte, die er von seinen eigenen Fans normalerweise zugedacht bekam. »Hey, Kumpel, ich und meine Freunde fanden es echt megastark, wie du dem Kerl die Eingeweide rausgerissen hast.«
»Das freut mich«, sagte Isabel.
»Tut mir Leid, dass Sie momentan all die Probleme haben.« Das Mädchen biss sich auf die Lippen. »Ich - ich heiße Jessica. Würde es Ihnen etwas ausmachen, irgendwann mal für mich zu beten?«
Isabel erhob sich und nahm sie in den Arm. »Das tue ich gerne, Jessica.«
In Rens Hals bildete sich ein Kloß. Isabel Favor war von Grund auf anständig. Und er hatte sich vorgenommen, sie zu korrumpieren ...
Die Frau kehrte zurück an ihren Tisch, und Isabel setzte sich wieder und starrte in ihr Weinglas. Schockiert musste er erkennen, dass sie ein lautloses Gebet für diese Fremde sprach. Hier, vor allen Leuten. Himmel.
Er tastete nach einer Zigarette, doch dann fiel ihm ein, dass seine tägliche Ration bereits verbraucht war. Also hob er stattdessen sein Weinglas an den Mund und trank es mit einem Schluck aus.
Schließlich hob sie den Kopf und sah ihn lächelnd an. »Sie wird gesund werden.«
Ebenso gut hätte sie ihm eine Eisenstange über den Schädel schlagen können, denn in dieser Sekunde wurde ihm bewusst, dass er es nicht könnte. Er könnte keine Frau verführen, die für Fremde betete, die Müll von der Straße auflas und jedem immer nur Gutes wünschte. Was hatte er sich eingebildet? Es wäre wie die Verführung einer Nonne.
Auch wenn diese Nonne wirklich heiß war.
Er hatte genug. Er würde sie nach Hause fahren, an ihrem Häuschen absetzen und sie schlichtweg vergessen. Bis zum Ende seines Urlaubs würde er so tun, als ob es diese Frau überhaupt nicht gab.
Der Gedanke war deprimierend. Er war gern mit ihr zusammen, und zwar nicht nur, weil sie überaus attraktiv war und ihn zum Lachen brachte, sondern weil er ihren Anstand als seltsam verführerisch empfand, wie eine frisch gestrichene Wand, die nur darauf zu warten schien, dass sie ein buntes Graffiti bekam.
»Frauen wie sie haben mir geholfen, die letzten sechs Monate zu überstehen. Es war gut zu wissen, dass meine Bücher und Vorträge ihnen etwas bedeutet haben. Unglücklicherweise haben inzwischen nicht mehr allzu viele Menschen Interesse an meiner Lebensphilosophie«, erklärte sie mit einem etwas angestrengten Grinsen.
»Wahrscheinlich trauen sie sich nur nicht zuzugeben, dass ihnen das, was Sie zu sagen haben, nach wie vor gefällt. Sicher spricht Ihre Philosophie die Menschen genauso an wie zuvor, nur sind Sie momentan nicht en vogue, und die Leute haben Bedenken, durch den Besuch Ihrer Vorträge als unmodern zu gelten.«
»Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen, aber ich glaube, die meisten Menschen lassen sich halt lieber von jemandem Ratschläge erteilen, dessen Leben kein einziger Scherbenhaufen ist.«
»Okay, das natürlich auch.«
Ihr Schweigen während der Rückfahrt
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