Vorstadtprinzessin
Augenblick vor, als Theo aus der Haustür trat. Verglichen mit dem Rot des alten Fords, war die Bluse von Theos Mutter ein reiner Augentrost. »Lässt sich doch gut an«, sagte Lucky.
»Was?«, fragte Theo. Er wusste, dass Lucky den Sommer meinte.
Sie hatten vor, in den Wald zu gehen. Löcher angucken, die sie in den Boden gesprengt hatten, Krater beinah, mit den Böllern, die von Silvester übrig geblieben waren. Erinnerung an vergangene Abenteuer. Ab und zu trafen sie sich vor den Kratern. Reine Nostalgie.
»Ist zu heiß«, sagte Lucky, »lass uns Eis essen gehen oder mit dem Auto herumfahren. Das Schiebedach funktioniert wieder.«
»Im Wald ist es kühl«, sagte Theo.
»Dein Hemd ist schief geknöpft«, sagte Lucky.
Theo fing an, das Hemd neu zu knöpfen. Warum fühlte er sich neben Lucky immer wie der hässlichste Junge der Welt? Sein Kumpel seit Kindergartenzeiten war eigentlich keine Schönheit. Gut gebaut, aber eher klein. Ein paar geschickt verteilte Sommersprossen. Verstrubbelte rotblonde Haare.
Das Lachen im Gesicht, dachte Theo. Lucky sah so aus, als sei er begeistert vom Leben. Darum war in der zweiten Woche im Kindergarten aus Lukas Lucky geworden.
Theo war schon damals nicht begeistert vom Leben gewesen.
Die hatte er seinen Eltern abgeguckt, die Nicht-Begeisterung.
Sie gingen Eis essen. Ins Tre Castagne, das eigentlich Sigis alte Kaffeestube am anderen Ende der Straße war. Eines Tages hatte Sigi aus dem Ladenfenster geguckt und die drei Kastanienbäume davor wahrgenommen, sich für die Namensänderung entschieden und fortan auch Tiefkühlpizza, getoastetes Weißbrot mit Käse und Schinken und Eis angeboten. Doch das Eis war gut. Das hatte Sigi im Griff.
»Spaghetti-Eis«, sagte Lucky, »das große. Ich lade dich ein.«
»Ich nehme nur zwei Kugeln«, sagte Theo.
»Ich hab noch Geld vom Mai übrig«, sagte Lucky, »hab meiner Mutter diesmal keines abgeben müssen.«
»Ist doch gut, reiche Freunde zu haben«, sagte Theo.
Er hatte noch ein Jahr bis zum Abitur. Lucky war nach der zehnten Klasse abgegangen, um eine Ausbildung anzufangen. Irgendwann sollte sie ihn zum Kraftfahrzeugmeister machen. Lucky liebte Autos.
Theo hatte gerade die letzte Erdbeersauce aus der Schale gelöffelt, als er den Kopf hob und lauschte. Hörte er Sirenen in der Ferne?
»Na«, sagte Lucky, »wieder alle fünf Sinne auf Empfang?«
Er hatte sich längst daran gewöhnt, dass Theo bei leuchtenden Farben die Augen zusammenkniff und Geräusche früher als andere wahrnahm.
»Irgendwo ist was passiert«, sagte Theo, »klingt nach was Größerem.«
Die Straße lag still in der Nachmittagssonne, als sie vor Theos Haus ankamen. Der alte Ellerbek arbeitete noch immer an der Hecke. Das Geräusch der schnappenden Schere schien das einzige zu sein.
»Dauernd ist er an der Hecke dran«, sagte Lucky, »doch das Haus verfällt ihm unterm Hintern.«
»Im Wald ist was los«, sagte Theo.
»Was soll da los sein?«, fragte Lucky.
Theo hob die Schultern.
»Ich glaube, du liegst richtig«, sagte Lucky, »da sind Leute. Ein ganzer Haufen. Gucken wir doch noch nach unseren Löchern?«
Theo nahm die Ray Ban ab, als sie den Wald betraten. Sonnenstrahlen fielen schräg durch das Laub der Bäume, doch es blieb dämmrig.
Sie kamen bis zu der Stelle, an der Troll sich zwei Stunden vorher vom Glitzerpapier hatte narren lassen. Absperrband war von Baum zu Baum gezogen. Dahinter weiß vermummte Gestalten.
Theo und Lucky blieben stehen und versuchten zu begreifen, was da geschah. »Vielleicht ’ne Leiche«, sagte Lucky.
»Ganz sicher eine Leiche«, sagte Theo und sah zu dem Mann, der sich ihnen näherte.
»Jungs, geht mal nach Hause«, sagte er.
»Sind Sie von der Spurensicherung?«, fragte Lucky.
»Es sei denn, ihr habt was auszusagen.«
»Auszusagen?«, fragte Lucky.
»Zieht Leine«, sagte der Mann.
Lucky trat gegen eine Kastanie, als sie aus dem Wald gingen. Er war nicht zufrieden mit dem Ablauf. »Wusste gar nicht, dass es hier auch Kastanienbäume gibt«, knurrte er.
Sie traten zwischen den Hainbuchen hervor, als ein Streifenwagen herankam und sich quer vor den Zutritt zum Wald stellte.
»Dann geben Sie mir mal Ihre Personalien«, sagte einer der Polizisten, kaum dass er aus dem Wagen gestiegen war. Theo kannte ihn. Er lief öfter im Viertel herum. Polizeipräsenz. Auch in den Vororten.
Theo sah seine Mutter oben am Giebelfenster stehen. Was machte sie in seinem Zimmer?
Der alte Ellerbek war nicht mehr zu sehen.
Theo
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