Vorübergehend tot
„Keine Sorge, das kriege ich schon mit. Ich spüre es kommen.“
„Verschlafen könntest du also nicht?“
„Nein.“
„Dann ist gut. Wirst du mich schlafen lassen?“
„Natürlich werde ich das“, sagte er mit einer höflichen Verbeugung, die aber ein wenig daneben wirkte, weil Bill ja nackt war. „Bald.“
Dann, als ich wieder im Bett lag und meine Arme nach ihm ausstreckte, fügte er hinzu: „Irgendwann einmal auf jeden Fall.“
* * *
Es kam genau so, wie Bill gesagt hatte: Als ich am nächsten Morgen erwachte, lag ich allein in seinem Bett. Ich blieb liegen und dachte nach. Auch vorher schon war mir in Bezug auf mein Verhältnis mit diesem Vampir der eine oder andere störende Hintergedanke durch den Kopf geschossen, aber nun schienen sich alle Mängel, die so eine Beziehung mit sich bringt, verschworen zu haben. Sie hüpften aus ihren Schlupflöchern und belegten mein Denken mit Beschlag.
Ich würde Bill nie bei Tage sehen. Ich würde ihm nie das Frühstück richten, mich nie mit ihm zum Mittagessen verabreden können. (Er ertrug es, mich essen zu sehen, aber besonders scharf fand er den Anblick nicht, und ich mußte mir hinterher jedesmal gründlich die Zähne putzen - wobei das ja eine sinnvolle Sache ist.)
Ich würde nie ein Kind von Bill haben, was ja ganz nett war, wenn man an die Verhütungsfrage dachte, aber ...
Ich würde Bill nie im Büro anrufen und ihn bitten, auf dem Heimweg rasch einen Liter Milch zu kaufen. Er würde nie dem Rotary Club beitreten, nie während der Berufsfindungswoche in der Oberschule einen Vortrag halten, nie die Baseballmannschaft der Grundschule trainieren.
Er würde nie mit mir zur Kirche gehen.
Während ich hier hellwach im Bett lag - und den Vögeln lauschte, die ihren Morgengesang angestimmt hatten, den Lastwagen, die lautstark die Straße entlang rumpelten, während überall in Bon Temps Menschen aufstanden und ihre Kaffeemaschinen einschalteten, ihre Zeitungen von der Veranda holten und anfingen, ihren Tag zu planen - während all dies geschah, lag das Wesen, das ich liebte, irgendwo in einem Erdloch und war nach allem menschlichen Dafürhalten vorübergehend tot.
Als ich an diesem Punkt angelangt war, ging es mir so schlecht, daß ich krampfhaft an etwas Aufmunterndes denken mußte, während ich mich im Badezimmer ein wenig wusch und mich dann anzog.
Bill schien sich wirklich und ehrlich etwas aus mir zu machen. Es war irgendwie nett - wenn auch etwas beunruhigend -, nicht genau zu wissen, wie viel.
Der Sex mit Bill war absolut phantastisch. Ich hätte mir nie träumen lassen, daß es so wunderbar sein würde.
Niemand würde es wagen, mir etwas anzutun, solange ich Bills Freundin war. Jede einzelne Hand, die mir ansonsten schon mal einen unwillkommenen kleinen Klaps verpaßt hatte, lag jetzt brav im Schoße ihres Besitzers und rührte sich nicht. Wenn, wer auch immer meine Großmutter ermordet hatte, dies getan hatte, weil er von ihr überrascht worden war, als er auf mich wartete, dann würde dieser jemand nicht noch einmal die Gelegenheit erhalten, einen Mordanschlag auf mich zu versuchen.
Bei Bill konnte ich mich voll und ganz entspannen, ein Luxus, der so kostbar war, daß ich seinen Wert gar nicht hätte benennen können. Meine eigenen Gedanken durften hierhin und dorthin schweifen, ganz wie sie es wollten, und die seinen würde ich nur zu hören bekommen, wenn er sie mir anvertraute.
Bei allem, was mir in der Beziehung mit Bill fehlte: Das zumindest hatte ich.
Ich befand mich immer noch in dieser sehr nachdenklichen Stimmung, als ich Bills Treppenstufen hinab zu meinem Wagen ging.
Ich war erstaunt, dort unten am Fuß der Treppe Jasons Pick-up stehen zu sehen.
Mein Bruder hatte sich für ein Treffen mit mir keinen günstigen Moment gewählt. Vorsichtig trat ich an sein Wagenfenster.
„Es ist also wahr“, begrüßte er mich. Dann reichte er mir einen verschlossenen Styroporbecher Kaffee aus dem Grabbit Kwick. „Steig ein“, bat er. „Setz dich zu mir.“
Erfreut über den Kaffee, aber insgesamt ziemlich auf der Hut kletterte ich zu ihm in die Fahrerkabine. Dann ließ ich mein Visier herunter. Das glitt nur langsam an Ort und Stelle und schmerzte, als zwänge man sich mühsam in einen Hüfthalter, der von Anfang an zu eng gewesen war.
„Wenn man sich ansieht, wie ich die letzten Jahre gelebt habe, kann ich dazu wohl nichts sagen“, bemerkte Jason, als ich nun neben ihm saß. „Soweit ich weiß, ist er dein erster Liebhaber,
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