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Vorübergehend tot

Vorübergehend tot

Titel: Vorübergehend tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlaine Harris
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konnte ihn immer noch nicht ansehen. „Ja.“
    „Du hast es deiner Mama erzählt? Sie hat nichts unternommen?“
    „Nein. Sie dachte, ich hätte eine schmutzige Phantasie. Oder mir sei in der Leihbücherei ein falsches Buch in die Hände gefallen, und ich hätte etwas mitbekommen, was ich ihrer Meinung nach noch nicht hätte erfahren dürfen.“ Wie gut ich mich an das Gesicht meiner Mutter erinnerte, an das Haar, das es einrahmte, zwei Schattierungen dunkler als mein Mittelblond. Daran, wie sich ihr Gesicht vor Ekel verzogen hatte. Meine Mutter hatte, da sie aus einer erzkonservativen Familie stammte, jegliche offene Zurschaustellung von Zuneigung sowie die Erörterung von Themen, die sie als unzüchtig empfand, schlichtweg abgelehnt.
    „Ich wundere mich, daß es eigentlich immer aussah, als seien sie und mein Vater glücklich miteinander“, erzählte ich Bill. „Sie waren so verschieden.“ Dann wurde mir bewußt, wie lächerlich die Aussage war, gerade aus meinem Munde. Ich drehte mich auf die Seite. „Als wären wir nicht verschieden!“ sagte ich und versuchte zu lächeln. Bill verzog keine Miene, aber ich konnte sehen, daß ein Muskel an seinem Hals zuckte.
    „Hast du mit deinem Vater darüber gesprochen?“
    „Ja, kurz bevor er starb. Als ich klein war, war es mir zu peinlich, mit ihm darüber zu reden, und meine Mutter glaubte mir ja nicht. Aber ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich wußte genau, ich würde meinen Großonkel jeden Monat mindestens zwei Wochenenden zu Gesicht bekommen, denn so oft kam er uns besuchen.“
    „Er lebt noch?“
    „Bartlett? Ja. Er war Omas Bruder, und Oma war die Mutter meines Vaters. Bartlett lebt in Shreveport. Nachdem Jason und ich dann bei meiner Oma eingezogen waren, nach dem Tod meiner Eltern, habe ich mich versteckt, als Onkel Bartlett das erste Mal zu Besuch kam. Als meine Oma mich gefunden hatte, fragte sie mich, warum ich mich versteckt hätte, und ich sagte es ihr. Sie hat mir geglaubt.“ Auch jetzt wieder stand mir lebhaft vor Augen, wie ungeheuer erleichtert ich an diesem Tag gewesen war, wie wunderschön die Stimme meiner Großmutter geklungen hatte, als sie mir versprach, ich würde ihren Bruder nie wieder sehen müssen, er würde uns nie, nie wieder besuchen.
    Er besuchte uns wirklich nie wieder. Oma trennte sich von ihrem eigenen Bruder, um mich zu schützen. Er hatte es nämlich auch bei Linda versucht, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, bei Omas Tochter. Diesen Vorfall hatte meine Großmutter in den hintersten Winkel ihres Gedächtnisses verbannt, wo sie ihn als Mißverständnis abgelegt hatte. Nachdem das mit Linda passiert war, so hatte sie mir später erzählt, mochte sie ihren Bruder nie wieder mit dem Kind allein lassen, aber gleichzeitig hatte sie sich nicht wirklich eingestehen können, daß er die Geschlechtsteile ihres kleinen Mädchens angefaßt hatte.
    „Also ist dein Onkel ein Stackhouse?“
    „Aber nein! Oma war eine Stackhouse, weil sie einen Stackhouse geheiratet hatte. Vorher war sie eine Hale.“ Ein wenig wunderte es mich schon, daß ich Bill das alles so haarklein erklären mußte. Wenn auch Vampir, so war er doch Südstaatler, hätte also durchaus in der Lage sein müssen, eine simple Familienkonstruktion nachzuvollziehen.
    Bill sah aus, als sei er in Gedanken meilenweit von mir entfernt. Ich hatte ihm wohl mit meiner finsteren, häßlichen kleinen Geschichte den Spaß verdorben. Mir hatte sie das Blut zu Eis gefrieren lassen, soviel war auf jeden Fall klar.
    „Ich glaube, ich gehe“, sagte ich, glitt aus dem Bett und bückte mich, um meine Kleider aufzusammeln. So schnell, daß ich es gar nicht hatte sehen können, war auch Bill aus dem Bett gesprungen und nahm mir die Kleider wieder aus der Hand.
    „Verlaß mich jetzt nicht“, bat er. „Bleib.“
    „Ich hab' heute nah am Wasser gebaut.“ Zwei Tränen rannen mir über die Wangen, und ich lächelte Bill krampfhaft an.
    Der wischte mir mit den Fingern sanft die Tränen aus dem Gesicht und folgte mit der Zunge deren Spuren.
    „Bleib bis zum Morgengrauen bei mir“, sagte er.
    „Aber da mußt du doch schon längst in deinem Schlupfloch sein“.
    „Wo muß ich sein?“
    „ Da wo du den Tag verbringst - wo immer das sein mag. Ich will gar nicht wissen, wo es ist!“ fügte ich hinzu und hob rasch beide Hände, um dies eindeutig klarzustellen. „Aber mußt du da nicht sein, ehe es auch nur ein klitzekleines bißchen hell wird?“
    „ Ach so“, sagte er.

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