Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
wahr. Schwerfällig hob er den Speer.
Zu spät.
Ein Schneebrett brach unter dem Gewicht des Wolfes. Das vom Blutverlust geschwächte Tier fiel in einer Wolke aufstäubenden Schnees von der hohen Wehe herunter. Mit wildem Geknurre, voller Haß und Angst, sprang der Wolf Der im Licht läuft an und warf ihn zu Boden.
Er kam wieder auf die Beine und kniete vor dem zähnefletschenden Tier nieder.
»Mein Bruder«, sang er monoton mit leiser Stimme, »laß dich töten. Mein Volk verhungert. Reinige deine Seele zu unserem Wohle. Wir brauchen dich …«
Unvermittelt sprang der Wolf vorwärts. Der im Licht läuft rollte sich instinktiv zur Seite und konnte sein Bein in letzter Sekunde vor den kräftig zuschnappenden Zähnen des Wolfes retten.
Das Tier keuchte heiser und stieß weiße, frostige Atemwolken aus. Die schmalen gelben Augen fixierten den Mann.
Der im Licht läuft verharrte regungslos. Aus dem Körper des Wolfes ragte die blutgetränkte Speerspitze und vibrierte bei jedem Atemzug. Blut rann aus der Wunde über das Fell des Wolfes und gefror sofort.
Warum empfinde ich keine Angst? Der Wolf sieht mich haßerfüllt an. Wir haben beide Hunger.
Vielleicht macht der Hunger Menschen und Wölfe verrückt?
Windfrau heulte durchdringend. Der Wolf gab knurrende Laute von sich. Sein Stoßweiser Atem glich weißem Dampf.
»Wolf… es tut mir sehr leid. Sonnenvater muß uns vergessen haben, deshalb sind wir gezwungen, uns gegenseitig aufzufressen. Wohin ist das Karibu gegangen? Wo ist das Mammut?«
Das Tier senkte den Kopf. Zum erstenmal nahm Der im Licht läuft den rötlichen Schaum am Maul des Wolfes wahr. Der Sturz von der Schneewehe mußte die Speerspitze tiefer in die Lunge getrieben haben.
Die Beine des Wolfes zitterten vor Schwäche. Verzweifelt versuchte das Tier, sich aufrecht zu halten, aber ihm fehlte die Kraft. Es taumelte, spannte in einem letzten Aufbäumen die Muskeln und stieß einen herzerschütternden Schrei aus, der das Geheul des Windes übertönte. Dann wankte das verletzte Tier und fiel zu Boden.
»Verzeih mir, Bruder.« Der im Licht läuft sang klagend, die Arme zum Nachthimmel erhoben. »Ich begleite deine Seele hinauf zum Volk der Sterne. Dein Fleisch wird mein Volk stärken. Du bist tapfer, Bruder Wolf.«
Unter Aufbietung all seiner Kraft stieß er eine lange Speerspitze in die Schulter des Wolfes. Das Tier heulte vor Schmerz auf und zuckte heftig mit den Beinen. Der im Licht läuft hielt das Ende der Spitze fest und focht den letzten Kampf mit ihm aus. Endlich erschlaffte der Wolf, und seine gebrochenen gelben Augen starrten in den Schnee.
Erschöpft sackte Der im Licht läuft zusammen. Er wandte den Blick hinauf zum Volk der Sterne.
»Vielen Dank, Wolf. Sonnenvater, hörst du mich?« rief er zornig. »Der Wolf opferte sein Leben für mein Volk. Er kümmerte sich um uns.«
Mit zitternden Händen schnitt er den Bauch des Tieres auf. Ein Schwall heißer Luft trat aus und liebkoste sein Gesicht mit warmem Blutgeruch. Er löste das Herz und schlürfte dankbar das noch lebendig warme Blut. Mit einer rasiermesserscharfen Speerspitze schnitt er den starken Herzmuskel in Streifen und stopfte sie in den Mund. Sein leerer Magen zog sich krampfartig zusammen. Der beißende Geschmack des Wolfsfleisches füllte ihn ganz aus Macht aus Kraft gewonnen.
Die Stärke des Wolfes durchströmte seinen Körper. In den Gliedern breitete sich warmes Wohlbehagen aus.
Leise singend kletterte Der im Licht läuft auf die hohe Schneewehe, von der der Wolf herabgestürzt war. Er scharrte im harschigen Schnee. In Minutenschnelle gelang es seinen geschickten Händen, eine Höhle zu graben, die ihm als Unterschlupf diente.
Er blickte zum Nachthimmel hinauf und rief: »Verschwindet! Ich habe mich ehrenhaft verhalten.
Meine Seele gehört euch nicht! Geht weg! Laßt mich allein!«
Die unheilvollen Mächte der Langen Finsternis erwiesen ihm und seinem Mut Respekt und zogen sich zurück.
Er zerrte den Kadaver des Wolfes den Hang hinauf, breitete ihn als Schutz vor Windfraus zudringlichen Händen über seine Höhle und betete, Großvater Eisbär möge ihn nicht finden. Völlig erschöpft legte er sich in die Schneehöhle und fiel sofort in tiefen Schlaf.
Hunger und Müdigkeit forderten ihren Tribut, aber im Schlaf wärmte ihn das kräftig durch seine Adern fließende Blut des Wolfes und stärkte ihn. In die Dunkelheit des Schlafes drängte sich ein Traum.
Im Traum gingen er und der Wolf Seite an Seite. Sonnenvater
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