Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
ich nichts verstand. Wie könnte ich also Verständnis von dir erwarten?«
»Sag mir, haben wir eine gemeinsame Zukunft?« Plötzlich schwankte ihre Stimme. »Oder hat eine andere Frau dein Herz erobert?«
»Niemand hat mein Herz erobert. Es gehört dir allein.«
»Dann …«
»Ich mußte mich entscheiden!« rief er. Gleich darauf senkte sich seine Stimme zu einem unglücklichen Flüstern. »Ich sah den Untergang unseres Volkes. Ohne einen Träumer haben wir keine Chance. Rabenjäger beeinflußt das Volk auf seine Weise. Ich muß es auf meine Weise beeinflussen.«
Der brennende Wunsch, ihn zu umarmen und festzuhalten, seine Unrast zu lindern, erwachte in ihr.
»Ich helfe dir.«
»Nein.«
»Aber Träume sind kein böser Fluch. Du setzt deine Gabe ein, um unser Volk zu retten, nicht…«
»Es ist ein Fluch. Es ist… als wäre man mit einem Klumpfuß oder einer viel zu langen Nase geboren.
So sieht es aus. Ich darf dich nicht lieben.«
»Warum nicht? Hat Reiher etwa nie geliebt? Ich kenne die Geschichte von Bärenjäger.«
»Sie …« Er wandte sich ab und preßte die Finger auf die geschlossenen Augenlider.
Die widersprüchlichsten Gefühle kämpften in ihr. Seinen Schmerz ausnutzen? Sich an ihn kuscheln, den Schmerz lindern, ihm Abbitte leisten? Wie erstarrt blieb sie sitzen, gelähmt von dem inneren Zwiespalt, der sie beinahe zerriß.
»Der Mann, den sie geliebt hatte, tötete sie. Frag Gebrochener Zweig. Sie war Zeugin. Für einen winzigen Augenblick gestattete sich Reiher zu lieben. Dadurch verlor sie den Kontakt mit dem Großen Einen, und die Pilze brachten sie um.«
Überwältigt von der Qual und dem Ernst auf seinem Gesicht lehnte sich Tanzende Füchsin zurück.
»Du glaubst, unsere Liebe würde dich vernichten?«
»Ja.« Er schüttelte den Kopf, als wolle er einen Nebelschleier vor seinen Augen vertreiben. »Ich sah, wie es einer Frau erging, die bedeutend mehr magische Kräfte besaß als ich. Ich habe mich entschieden. Nein, das stimmt nicht ich wurde erwählt. Das Volk braucht einen Träumer.«
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie nickte langsam. Eine unendliche Leere öffnete sich in ihrem Innern. »Das heißt, alles ist vorbei? Dieser furchtbar lange Weg, all die Leiden … und du willst mich nicht mehr?«
Er hörte den Schmerz in ihren Worten und wandte sich ab. Tonlos flüsterte er: »Es tut mir leid.«
Sie nickte, erhob sich und sah auf ihn nieder. Ihre Seele weinte. »Licht?«
Er blickte auf.
»Berühr mich. Ein allerletztes Mal.« Sie streckte die Hand nach ihm aus.
Er ergriff sie. Unendliche Zuneigung flammte in seinen Augen auf. Doch als ihre Fingerspitzen sich berührten, fiel ein Schatten über sein Gesicht. Er erstarrte. Er sah sie an, als käme eine ungebetene Erinnerung zurück wie eine grauenhafte Erscheinung.
»Was ist?« fragte sie und zog ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt. »Was ist los?«
Er vergrub den Kopf im Eisbärfell. Ihre Seele gefror in stummem Schluchzen.
»Laß mich allein!« schrie er.
Blitzschnell drehte sie sich um, schlüpfte unter der Felltür durch und lief davon, ohne auf ihren schmerzenden Knöchel zu achten. Fast hätte sie Der der schreit umgerannt. Sie kümmerte sich nicht um ihn, sondern floh weiter. So schnell wie möglich wollte sie dem Bild des Grauens in Wolfträumers Augen entkommen.
Mondwasser streckte ihre verspannten Rückenmuskeln und zuckte vor Schmerz zusammen. Sie ließ ihr Haar wie einen Schleier über ihr Gesicht fallen, damit sie ungeniert ihre Entführer beobachten konnte, die sich um den jungen Träumer versammelt hatten. Für einen so jungen Mann besaß er bewundernswerte magische Kräfte. Sie dachte mit Hochachtung an jenen Augenblick, als er die Karibus rief. Seine Macht flößte ihr große Ehrfurcht ein, obwohl die vielen getöteten Tiere nur härteste Arbeit für sie bedeuteten.
Er könnte ebenso große magische Kräfte besitzen wie Eisfeuer. Ebenso mächtig sein wie unser größter Schamane! Dieser Gedanke hinterließ einen bitteren Nachgeschmack in ihrem Mund. Undenkbar!
Unvorstellbar, daß dieser erbärmliche Überrest eines armseligen Volkes einen derart mächtigen Träumer hervorbrachte.
Hüpfender Hase blickte zu ihr herüber, und sie machte sich schnell wieder an die Arbeit und häutete das Karibu.
Verabscheuungswürdig! Sie, Mondwasser, die älteste Tochter des Sängers des Weißen-Stoßzahn-Clans, mußte eine derart widerliche Arbeit verrichten, die normalerweise nur alten Weibern
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