Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
schaukelte vor und zurück wie Großvater Braunbär.
Ihr breites Grinsen enthüllte die zahnlosen schwarzen Kiefer und die rosige Zunge.
»Wolfstraum!« Ihre rauhe Stimme überschlug sich. »Haheee! Ich gehe mit Der im Licht läuft nach Süden. Ich ziehe nach Süden mit dem Wolf!«
Sonnenvater verschwand hinter dem Horizont im Südwesten. Das fahle Licht der einsetzenden Dämmerung unterstrich die eingefallenen Wangen und die tief in den Höhlen liegenden Augen der Menschen auf gespenstische Weise. Die Dunkelheit senkte sich herab wie ein opalisierender Rauchschleier. Die flackernden Leuchtfeuer, Zeugen des Krieges der Monsterkinder, erschienen in allen Regenbogenfarben am nördlichen Himmel. Seit Anbeginn der Zeit fochten die Zwillinge, von denen einer gut und der andere böse war, ihren immerwährenden Kampf aus.
»Nach Süden geht ihr in den Tod\ Erhöre mich, Sonnenvater! Ich, Krähenrufer, träume Deinen Traum.
Spürst du meine Kraft? Ich verfluche diese … diese Verräter! Ihre Seelen werden nie aufsteigen zum Heiligen Volk der Sterne. Tod!« schrie er, breitete die Arme aus wie ein Adler die Schwingen und drehte sich einmal um die eigene Achse. Dann hockte er sich nieder und starrte seinem jungen Gegner unverwandt ins Gesicht.
»Ich folge dem Wolf. Jeder, der vom Wolfsfleisch ißt, folgt meinem Traum.« Mit diesen Worten drehte sich Der im Licht läuft um, bahnte sich einen Weg durch die versammelten Menschen, bückte sich unter der Felltür hindurch und verschwand in seiner Behausung.
KAPITEL 5
Das dunkelrote Licht des Feuers warf flackernde Schatten auf die Zeltwände aus Mammutfell. In den Augen der Menschen standen Angst und Sehnsucht. Schweigend kauerten sie um die wärmenden Flammen.
Der der schreit hob das Ende seiner neuen steinernen Speerspitze zum Mund. Mit der Zunge ertastete er den Punkt zur Befestigung der Sehne. Er klemmte sie zwischen den abgewetzten Schneidezähnen fest und zog, bis sich der Knoten kräftig und unverrückbar anfühlte. Kritisch prüfte er die Verbindung und nickte dann zufrieden.
Singender Wolf stocherte in der Glut des Mammutdungfeuers. Zusammen mit getrocknetem Moos ergab der Dung eine dürftige Wärmequelle. Sie hatten Glück gehabt; ein Kind hatte das Brennmaterial zufällig an einer vom Wind freigewehten Stelle gefunden. In Singender Wolfs Augen lag noch immer die Trauer um sein totes Baby. Der Dung glühte rot, dick und modrig hing der Rauch in der Luft.
Der der schreit zeigte mit seinem langen Speerschaft auf die Brocken Wolfsfleisch, die in ihrer Mitte auf dem Boden lagen. »Soll ich die ganze Nacht hier sitzen und dieses Fleisch anstarren?«
»Wer ist stärker? Dein Magen? Oder deine Angst vor Krähenrufer? Du weißt, was er mit dir macht, wenn du von diesem Wolfsfleisch ißt«, entgegnete Singender Wolf und richtete seine Augen ebenfalls begehrlich auf das langsam auftauende Fleisch. Die dem Feuer am nächsten liegenden Stücke begannen bereits rötlich zu glühen.
»Schamanen!« murrte Der der schreit und drehte unentschlossen seinen Speer in den Händen.
»Fechten ihre Machtspiele aus, während das Volk verhungert. Ich esse das Fleisch.« Mit diesen Worten kroch er bereits über den Boden auf die Brocken zu.
»Du gehst mit Der im Licht läuft nach Süden?« Singender Wolf blickte ihn zweifelnd an.
Einen Moment verharrte Der der schreit, ohne das Fleisch aus den Augen zu lassen. Verwirrt runzelte er die Stirn und grub seine Zahnstummel in die Unterlippe. Im Feuerschein wirkte sein rundes Gesicht fast wohlgenährt. Die hohen Backenknochen betonten die platte Nase. Aus seinen Augen hatte der Hunger jegliche Fröhlichkeit verbannt.
Unsicher zuckte Der der schreit die Achseln. »Rabenjäger behauptet, sein Bruder sei ein Narr. Ein Narr kann sich leicht etwas einreden und sogar noch daran glauben. Ihr wißt, Der im Licht läuft sieht ständig irgendwelche Dinge. Vielleicht…«
»Rabenjäger ist ein vernünftiger Mann. Wie können zwei Brüder nur so verschieden sein?«
»Also, was sollen wir tun? Seht euch das Fleisch an.« Er streckte die Hand aus. »Was haben die Geister mit meinem Magen zu schaffen? Was mischen sie sich ein? Um uns herum herrscht nur Tod.«
»Alle Schamanen sind verrückt«, schimpfte Singender Wolf.
»Ich esse jetzt. Traust du dem Geisterfleisch nicht?«
Singender Wolf überlegte und kratzte sich unter dem Arm. Schließlich sagte er nachdenklich: »Sei nicht dumm. Natürlich nicht. Geister sind unberechenbar.« Eine längere
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