Vorzeitsaga 01 - Im Zeichen des Wolfes
Pause folgte. »Krähenrufer wollte nicht für mein Kind singen. Er wollte nicht!« Lachender Sonnenschein, die hinter ihm saß, begann zu weinen. Ganz fest drückte er ihre Hand.
Der der schreit sah ihn mit schmerzlichem Gesichtsausdruck an. »Hast du Lichts Augen gesehen? Hast du den Traum darin gesehen ?«
Unbehaglich rutschte er hin und her. »Ich weiß nicht. Da war etwas, aber …«
»Aber was?«
»Rabenjäger sagte …«
»Ich weiß, was er gesagt hat«, brummte Der der schreit angewidert und schaukelte auf den Fersen.
Laut mahlte er mit den Zähnen.
Kopfschüttelnd hantierte Singender Wolf mit einem Stichel. Dieses Grabwerkzeug mit einem scharfen spitzen Ende hatte er sorgsam angefertigt. Es diente zum Ausgraben von Holz, Knochen oder Geweihen. Vom gefrorenen Boden hob er einen kleines Stück Mammutrippe auf längst hatten sie das Knochenmark ausgesogen.
Die Falten um seine Augen vertieften sich. Mit dem Grabstichel kratzte er Figuren in den Knochen.
Beiläufig sagte er: »Krähenrufer hat jeden verflucht, der von diesem Wolfsfleisch ißt.«
»So? In einer Hinsicht jedenfalls haben beide, Krähenrufer und Der im Licht läuft, recht. Wir müssen fort von hier. Aber mit leerem Magen kommen wir nicht weit.«
Grünes Wasser, die Frau von Der der schreit, zog ihre Wolfspelzdecke fester um die Schultern. »Das Herumsitzen füllt unsere Bäuche auch nicht«, sagte sie mit ihrer schönen Stimme. Sie betrachtete zweifelnd ihren Mann. Nicht nur der Hunger hatte die Liebe zu ihm abstumpfen lassen. »Niemand entdeckte Wild, nicht einmal die kleinste Spur. Wenn wir noch länger hierbleiben, werden wir dann überhaupt noch die Kraft für eine lange Wanderung haben?«
Der der schreit blickte auf seinen Speer und nahm sich die Zeit, ein heiliges Lied zu summen, bevor er die Spitze in den Köcher aus der Haut eines Karibukitzes zurücksteckte. »Ich esse das Fleisch.«
»Mein Kind ist tot«, fügte Singender Wolf mit ausdrucksloser Stimme hinzu. Besorgt ruhten seine Augen auf dem von Kummer gezeichneten Gesicht von Lachender Sonnenschein. Dann fiel sein Blick wieder auf das im Feuerschein leuchtende Wolfsfleisch. »Meine Kinder sind alle tot.«
Lachender Sonnenscheins Lippen bebten, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Das Schweigen schien sich endlos zu dehnen.
Endlich fuhr Singender Wolf fort: »Ist Lachender Sonnenschein die nächste? Ich? Bin ich der nächste?
Wer verhungert als nächster?«
Hilflos zuckte Der der schreit die Achseln. Mit seinen kurzen, dicken Fingern wischte er sich Ruß aus einem Augenwinkel. »Krähenrufer sagt, wenn du das Fleisch ißt…«
»Mein Kind«, wiederholte Singender Wolf, »wäre zu einer Schönheit herangewachsen und hätte unserem Volk Leben geschenkt.« Er verstummte. Nach einer Weile setzte er seufzend hinzu:
»Krähenrufer wollte nicht einmal für sie singen. Ein nutzloses Leben, hat er gesagt. Nichts als Tod und hier liegt Fleisch. Wie viele Tage waren wir draußen? Wie lange haben wir kein Lebewesen gesehen in dieser verschneiten Einöde?«
»Zu lange.«
Singender Wolfs Hand umklammerte den Grabstichel, mit dem er noch immer Muster in den Knochen ritzte.
»Knochenwerfer stöberte Großvater Eisbär auf«, erinnerte ihn Grünes Wasser.
»Das ist auch so eine Sache«, meinte Der der schreit. »Hat man je gehört, daß Großvater Eisbär so weit im Süden weilt? Die Geister wollen uns von hier weghaben.« Der der schreit schnüffelte. In der Kälte lief ihm fast ständig die Nase. Mit dem Daumen prüfte er die Schärfe der Kanten der gebrochenen Speerspitze, die er eben durch eine neue ersetzt hatte. »Ich muß sie schärfen. Guter Stein für Werkzeug ist weit im Süden eine Seltenheit. Vielleicht finden wir auf der anderen Seite des Großen Eises auch Obsidian, hm? Oder guten Quarzit? Vielleicht weisen die von Krähenrufer verfluchten Toten uns den Weg? Was glaubt ihr?«
Mit weicher Stimme fragte Lachender Sonnenschein: »Was kann einem Menschen widerfahren, der Geisterfleisch gegessen hat?«
Ratlos sah Singender Wolf sie an. »Wenn ich zwischen den Träumern wählen muß, entscheide ich mich für Der im Licht läuft.«
»Er ist fast noch ein Kind.«
»Bisher hatte Krähenrufer immer recht«, meinte Grünes Wasser bedächtig und rückte ihre Felldecke zurecht.
»Zwei, die recht haben?« fragte Der der schreit erstaunt. »Und jeder geht in eine andere Richtung? Ich kann mich nicht zerreißen, nur um zwei Träumer glücklich zu machen!«
»Hast du denn den
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