Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss

der dich zu mir geleitet.«
    »Morgen. Heute nacht muß ich einige Rituale vollziehen. Aber jetzt müssen wir uns beeilen. Ich will wissen, welche Befehle Tharon dir erteilt.«
    »Befehle?«
    »Natürlich«, entgegnete sie kühl. »Glaubst du, er hört von den Vorgängen in den Spiral Mounds und erwägt nicht, dich auf einen neuen Kampfgang zu schicken? Aus diesem Kampf sieht er sich bereits als Helden hervorgehen.«
    Bei dem Gedanken, so kurz nach dem Angriff auf River Mound erneute Überfälle begehen zu müssen, erstarrte Dachsschwanz' Seele. »Was?«
    Prüfend betrachtete Nachtschatten sein verblüfftes Gesicht, wandte sich um und stieg ungerührt weiter die Treppe hinauf. Sie hatte bereits den Tempel betreten, ehe er sich wieder gefaßt hatte und weitergehen konnte. Mit weiten Sprüngen jagte er die Treppe hinauf, verneigte sich vor den Sechs Heiligen und eilte hinter ihr her.
    Aus einer der Flurtüren sah Orenda heraus. Ihr Gesicht war vom Weinen verquollen, die Nase gerötet.
    Sie preßte eine große Puppe an ihre Brust. Mit schwacher Stimme rief sie: »Nachtschatten …« Dann fiel ihr Blick auf den hinterhereilenden Dachsschwanz, und sie zog sich rasch zurück.
    Dachsschwanz schüttelte den Kopf. In Orendas ganzem, neun Zyklen dauernden Leben hatte er sie noch nie mehr als drei oder vier zusammenhängende Sätze sprechen hören. Nie verließ sie den Tempel, nie spielte sie mit anderen Kindern. Der einzige Trost des kleinen Mädchens war ihre Mutter Singw gewesen. Wie sollte das Kind nach Singws Tod weiterleben?
    Schweigend gingen sie den Flur hinunter auf das Sonnenzimmer zu, aus dem zornige Stimmen drangen. Wieder verneigte sich Nachtschatten, bevor sie über die Schwelle trat. Dachsschwanz folgte ihr auf den Fersen.
    Tharon starrte den Boten, den Kriegsführer der Spiral Mounds, wütend an. Schwarze Birke war eine Hand größer als Dachsschwanz. Die schräg über seine hohe Stirn und die Wangen tätowierten parallel laufenden Linien ließen seine Haut blaß erscheinen und hoben seine platte Mopsnase hervor. Sein Kriegshemd aus hellem Leder war blutbesudelt.
    »Das habe ich nicht gesagt, Häuptling Große Sonne!« erklärte Schwarze Birke soeben mit fester Stimme. Als er Dachsschwanz erblickte, wandte er sich an ihn. »Kriegsführer, sicher siehst du ein, daß Cahokia nicht zulassen darf, wie die Schwesterdörfer von Petagas Kriegern in den Staub getreten werden! Woher soll denn euer Tribut im nächsten Zyklus kommen? Ohne uns könnt ihr in Cahokia nicht überleben!«
    Ruhig ging Nachtschatten zu den Gegenständen der Mächte, die im Kreis um den Altar lagen.
    Ehrfürchtig legte sie das Schildkrötenbündel neben das des alten Murmeltier und setzte sich daneben.
    Das Licht aus den Feuerschalen schimmerte wie Honig auf ihren feuchten Locken. Aber die Flammen verbreiteten heute nicht die gleiche Helligkeit wie sonst. Die hohe Decke lag in tiefer Dunkelheit, nicht einmal die neuen Seemuscheln glitzerten.
    »Geht es darum, mein Häuptling?« fragte Dachsschwanz. »Werden alle unsere Schwesterdörfer dem Erdboden gleichgemacht, oder betrifft es nur die Spiral Mounds?«
    Tharon schlenderte zum heiligen Piedestal und stützte sich mit den Ellenbogen darauf. In seinem goldenen Gewand und dem Kopfschmuck aus Tangarafedern sah er aus wie eine aus reinem Bernstein geschnitzte Statuette. »Augenblicklich nur die Spiral Mounds. Aber Schwarze Birke behauptet, alle größeren Dörfer würden sich gegen uns stellen. Angeblich haben sich sogar einige kleinere Dörfer auf Petagas Seite geschlagen. Er sagt, Petaga wolle uns überfallen, sobald er genügend Krieger zusammen hat. Glaubst du das?«
    Dachsschwanz schielte zu Schwarze Birke hinüber. Erst vor ein paar Monden hatte er gegen diesen Mann gekämpft. Er wußte, wie überheblich und rücksichtslos er war.
    Konnte man ihm trauen? Und wenn er mit Petaga unter einer Decke steckte und versuchte, Dachsschwanz in eine Falle zu locken? Ein tödliches Funkeln wie von frisch geschlagenem Hornstein blitzte in Schwarze Birkes Augen auf. Dachsschwanz kannte diesen Blick. »Ja, mein Häuptling. Ich glaube Schwarze Birke.«
    Tharons Blick fiel auf Nachtschatten. Ihre Lippen zuckten belustigt. »Und du, Priesterin? Was hast du in dieser Sache gesehen?«
    Sanft strich Nachtschatten über das Machtbündel des alten Murmeltier. »Nichts, Tharon. Nichts habe ich gesehen.«
    »Nichts?«
    »Nichts.«
    Tharon knirschte mit den Zähnen. »Was bist du eigentlich für eine Priesterin? Meine