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Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss

Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss

Titel: Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen O'Neal Gear , W. Michael Gear
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tatsächlich die Kühnheit, deinen Vater öffentlich der Tempelschändung zu beschuldigen? Das erstaunt mich.« Nachdenklich betrachtete Nachtschatten die Sternenkarte an der Wand. Die darauf eingezeichneten Ungeheuer funkelten im flackernden Licht der Feuerschale, die neben dem Dreifuß mit dem Schildkrötenbündel stand. »Was geschah, nachdem der alte Murmeltier dich in sein Zimmer gerufen und über deinen Vater befragt hat?«
    Orenda zog kurz und scharf die Luft ein. »Ich - ich habe geweint. Tharon hörte es. E-er schickte mich zurück - auf mein Zimmer. Mutter kam und - s-setzte sich zu mir.«
    »Was hat sie gesagt?«
    Orendas kleine Hände begannen zu zittern. Rasch versteckte sie sie in den Falten des roten Stoffes.
    »Sie sagte, sie würde Tharon töten.«
    Nachtschatten schwieg. Sie fürchtete, wenn sie zu hartnäckig nachfragte, würde Orenda sich wieder in ihr Schweigen zurückziehen. Die Liste der bestehenden Tabus war lang, deshalb war es schwer, Rückschlüsse auf Tharons Vergehen zu ziehen.
    Sie wechselte das Thema und nahm einen neuen Anlauf. »Deine Mutter war eine gute Frau, Orenda.
    Als ich zum erstenmal nach River Mounds kam, war ich vierzehn. Singw kam oft des Nachts zu mir, und wir unterhielten uns. Sie gehörte zu den wenigen meines Alters, die den Mut aufbrachten, mit mir zu reden.«
    Orenda blickte auf; ihre Unterlippe bebte. Der Kummer in ihren tränenfeuchten Augen war so unendlich groß, daß Nachtschattens Haß auf Tharon ins Grenzenlose wuchs. »Was hat sie zu dir gesagt?«
    »Oh, wir redeten über vieles. Meist sprachen wir über deinen Vater. Im Jahr davor waren Singw und Tharon einander versprochen worden, und deine Mutter wartete voller Angst auf deine Geburt, denn anschließend mußte sie Tharon heiraten und für immer nach Cahokia gehen.«
    Orendas Augen wurden groß. »Hatte meine M-Mutter Angst vor ihm?«
    »O ja, schreckliche Angst. Ich habe Singw erzählt, was Tharon mir alles angetan hat. Ich zeigte ihr sogar die Prellungen, die er mir am selben Tag, als er mich aus Cahokia verbannte, mit seiner Kriegskeule zugefügt hat.«
    »Er hat dich geschlagen?«
    »Ständig.« Nachtschatten hob den Saum ihres Gewandes und drehte ihr Bein so, daß Orenda die lange Narbe auf ihrer Wade sehen konnte. »Da verletzte mich dein Vater, als er ein neues Messer geschenkt bekommen hatte. Er wollte es an jemandem ausprobieren. Er war so viel größer als ich. Ich konnte wenig tun, um ihn daran zu hindern.«
    Behutsam berührte Orenda die entstellte Haut. »A-Aber Nachtschatten, du bist eine Priesterin. Warum hast du ihn nicht g-getötet?«
    Nachtschatten zog die Knie an und verschränkte die Hände. Unverwandt starrte Orenda in Nachtschattens Gesicht; ihre Hände zupften nervös an ihrem Kleid. Das lohfarbene Licht tanzte flackernd über die langen Haare des Mädchens.
    »Die Mächte gehen andere Wege. Oh, sicher, ich hätte ihn töten können, aber ich fürchtete mich vor der Vergeltung der Mächte. Um der Gerechtigkeit willen hätten sie zurückgeschlagen.«
    Orenda wandte den Blick ab. Flüsternd sagte sie: »Mich hat er auch geschlagen.«
    »Ich weiß es.«
    »Nachtschatten, hat Tharon … hat er …« Orenda blickte auf. Grauen schlich sich in ihre dunklen Augen. »Was h-hat er dir noch angetan?«
    »Oh, er hat mir auf mancherlei Art Verletzungen zugefügt. Was hat er mit dir gemacht?«
    »Er … er …« Orenda öffnete den Mund, als wolle sie antworten, aber Zyklen der Angst hatten sie gelehrt, die Worte tief in ihrem Innern zu begraben.
    »Mir kannst du es ruhig sagen, Orenda. Ich verspreche, mit niemandem darüber zu reden.«
    »Aber wenn er je d-dahinterkommt … Deshalb mußte meine Mutter sterben. Weil ich es dem alten Murmeltier gesagt habe.« Orenda beugte sich vor und verbarg weinend das Gesicht in ihrem roten Gewand.
    Überrascht zog Nachtschatten die anmutig geschwungenen Augenbrauen zusammen. »Als er dich in seine Kammer gerufen hat - da hast du es ihm gesagt?«
    Orenda nickte.
    »Und am nächsten Abend - das stimmt doch? - befahl Tharon alle Sternengeborenen zum Essen zu sich in den Tempel?«
    Orenda antwortete nicht. Es war auch nicht nötig.
    »Dein Vater hat wahrlich keine Zeit verschwendet.« Sanft strich sie über Orendas Rücken. Mehr zu sich selbst sagte sie nachdenklich: »Dein Vater hatte schon immer eine Schwäche für Giftpflanzen. Als er neun war, sammelte er Salzbuschzweige, giftige Liliengewächse, die Steine von Wildkirschen und die weißgrauen Blätter der

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