Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
verschwand hinter den Palisaden. Mit einem lauten Knall schloß sich das Tor aus Baumstämmen hinter ihm.
Sie schielte zu den anderen Kriegern hinüber, die sich mit furchterfüllten Augen ein Stück weit von ihr zurückzogen und auf einem kleinen, grasbewachsenen Platz niederließen. Die dürren Halme knisterten unter ihrem Gewicht.
Flechte setzte sich, zog die Knie an und stützte das Kinn auf. Der Anblick der roten Spiralen auf dem zerrissenen Saum ihres Kleides weckte schmerzliche Sehnsucht nach Wanderer.
»Ich bin hier, Wanderer«, wisperte sie. »Ich bin hergekommen, genau wie du und Feuerschwamm es mir gesagt haben. Aber ich habe Angst.«
Das Tor öffnete sich knirschend, und Flechte sprang auf.
Aber wider Erwarten trat nicht Nachtschatten aus dem Tor, sondern ein Mann, gekleidet in ein goldenes Gewand und mit einem Kopfschmuck aus herrlichen gelben Federn. Verschlungene Tätowierungen bedeckten sein Gesicht. Er trug glänzende Ohrspulen, die fast so groß waren wie seine Ohren. Er schob das Kinn vor und starrte mit einem gierigen Funkeln in den Augen auf den Steinwolf.
»Wer bist du?«
»Ich - ich bin Flechte. Ich muß zu Nachtschatten.«
Ein Stöhnen erklang hinter dem Tor. Der Mann drehte sich um und sagte barsch: »Schafft ihn hier weg. Er amüsiert mich nicht mehr.«
Flechte wich taumelnd zur Seite, als zwei Krieger einen Berdachen hinter den Palisaden hervorzerrten.
Dunkel verfärbte Schwellungen bedeckten sein Gesicht. Arme und Beine des Berdachen waren mit Blutergüssen übersät - manche hatten sich bereits gelb verfärbt. Er wehrte sich schwach und stöhnte jämmerlich. Aus Fieberglänzenden Augen blickte er Flechte an. Sie war sich nicht sicher, aber sie glaubte, ihn undeutlich murmeln zu hören: »Lauf weg!«
Die Wächter zerrten ihn weiter den Weg entlang, der nach Süden führte.
Der Mann im goldenen Gewand starrte Flechte durchdringend an. Mit der Hand gab er den Wachen ein Zeichen und befahl: »Bringt sie in mein Gemach.«
KAPITEL 39
Ein kleines Mädchen weint…
Jäh wurde Orenda aus ihrem Halbschlaf gerissen. Sie richtete sich auf der Schilfmatte vor Nachtschattens Bett auf und lauschte angestrengt mit angehaltenem Atem. Doch sie hörte nur den Wind, der raschelnd und schlagend am Strohdach zerrte. Aus der Ferne erklang das nächtliche Jaulen eines Fuchses. War das Weinen des Mädchens nur ein Traum gewesen?
»Nachtschatten!« rief sie. »H-hast du das gehört?« In der entgegengesetzten Ecke des Zimmers verbreitete eine Feuerschale mattes orangefarbenes Licht. Am Rande des Lichtscheins saß Nachtschatten. Sie preßte das Schildkrötenbündel an die Brust und starrte unverwandt in ein Quellgefäß. In ihren großen, schwarzen Augen spiegelte sich unheimlich das Licht.
Schläfrig erhob sich Orenda von der Schilfmatte und ging in ihrem hellbraunen Schlafgewand zu Nachtschatten hinüber. Der starre Blick in den Augen der Priesterin flößte ihr Angst ein.
»Nachtschatten, ich habe etwas g-gehört.«
Nachtschatten rührte sich nicht, sie sah aus wie eine Tote.
Ängstlich leckte sich Orenda die Lippen. Ein paarmal hatte sie mit ihrer Mutter zufällig den alten Murmeltier bei seinen Reisen in die Unterwelt gestört. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter sein merkwürdiges Verhalten erklärt hatte. »Wenn die Seelen der Träumer in der Unterwelt schweben, sehen sie wie Tote aus, Orenda. Das kommt daher, daß in ihren Körpern kaum noch Leben ist.«
Vorsichtig lugte Orenda in den kleinen Korb mit den roten Spiralen neben Nachtschattens Knie. Eine graue, schmierige Paste bedeckte den Boden des Korbes.
»Nachtschatten, da waren S-Schreie. Hast du sie auch gehört? Ich brauche dich, ich habe Angst.«
Als sie keine Antwort erhielt, strich Orenda Nachtschattens Haare zurück und betrachtete prüfend die Schläfen der Priesterin. Ja, genau wie beim alten Murmeltier: Graue Paste war auf den Schläfen aufgetragen.
Sie ließ den Haarschleier wieder fallen, lehnte sich zurück und zog die Knie an die Brust. Völlig verängstigt versuchte sie, Klarheit in ihre Gedanken zu bringen. Seit Wochen hatte Nachtschatten vergeblich versucht, in die Unterwelt zu gelangen. Orenda fragte sich, warum sich die Erste Frau ausgerechnet in dieser kalten, feuchten Nacht entschlossen hatte, das Tor zum Quell der Ahnen zu öffnen.
Ein gequälter Schrei drang durch die Flure.
Orendas Herz hämmerte. Kurz darauf erklang ein gedämpftes, ersticktes Schluchzen. Eiskaltes Entsetzen überlief sie; ihr Magen
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