Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
übereinander-geschlagenen Beinen neben Flechte.
Flechte, warm in Decken gehüllt, war noch schwach und blieb immer nur ein paar Hand Zeit wach; aber ihre Lebensgeister kehrten langsam zurück, ihre Wangen hatten sich bereits gerötet, und ihre Augen leuchteten schon ein wenig.
Orendas Blick hing wie gebannt an Flechte. »Hat dir die Erste Frau wirklich gesagt, daß die Menschenwesen noch eine Weile hier leben dürfen?«
»Ja«, erwiderte Flechte. ,Aber sie hat nicht gesagt, für wie lange. Sie erklärte mir, sie würde die Menschen beobachten und abwarten.
Wenn die Menschenwesen Mutter Erde weiterhin weh tun, dann wird die Erste Frau uns zwingen, fortzugehen.«
»Wohin will sie uns schicken?«
»Nach Süden. In das Land des Sumpfvolkes. Die Erste Frau hat gesagt -«
Entsetzt stieß Orenda hervor: »Aber dort gibt es riesige Schlangen! Ich habe einen Händler davon erzählen hören.«
Flechte nickte. »Genau dahin wird die Erste Frau die Menschenwesen schicken. Sie ist nicht gerade glücklich über uns.«
Orenda machte ein finsteres Gesicht. Plötzlich erhellte ein Lächeln ihre Züge. »Weißt du was, Flechte?«
»Was?«
»Ich gehe fort in den Süden. Nachtschatten nimmt mich mit.« Aufgeregt kniete sich Orenda hin, beugte sich näher zu Flechte und flüsterte ihr ins Ohr: »Aber nicht in das Land des Sumpfvolkes …«
Wanderer ging neben Nachtschatten in die Hocke und beobachtete mit Interesse, mit welcher Vorsicht sie in der Asche stöberte. Ihre Fingerspitzen strichen über die schwarzen Überreste der Schilfrohrmatten, die einmal Tharons Zimmer geschmückt hatten. »Was suchst du?«
»Sie haben mich gerufen«, antwortete Nachtschatten mit sanfter Stimme. »Als das Feuer dieses Zimmer erreichte, hörte ich sie meinen Namen rufen.«
»Wer hat gerufen?«
»Die heiligen Bündel, die Halsbänder und die anderen Gegenstände der Mächte, die Tharon gestohlen hat.«
Lauschend legte Wanderer den Kopf schräg. Eine rauchgeschwängerte Windbö fegte durch die Tempelruinen und zauste sein graues Haar. »Ich höre sie nicht.«
»Weil sie dich nicht rufen.«
Nachtschattens Hand verharrte mitten im Suchen. Sie schloß die Finger um einen Gegenstand und zog einen mit Eisen verstärkten menschlichen Kieferknochen aus der Asche. Das Eisen war zu dünnem Blech gehämmert und anschließend um den Knochen gelegt worden. Wanderer beugte sich weiter vor und entdeckte fast an derselben Stelle den mumifizierten Körper eines jungen Hundes, der neben einer mit roter Farbe beklecksten Steinpalette lag. Nachtschatten sammelte auch diese Gegenstände ein und steckte sie in den Korb. Dabei murmelte sie: »Macht euch keine Sorgen. Wir gehen fort von hier.«
Mit geschlossenen Augen erhob sie sich und ließ sich von ihrer Seele zur nächsten Fundstelle führen.
Wanderer folgte ihr neugierig. Nachtschatten ging um eine umgestürzte Bank herum, kniete nieder und pustete vorsichtig die Asche von einer großen Pfeife aus Seifenstein. Ein Ottergesicht, von einem Kunsthandwerker aus dem weichen grünen Stein herausgehauen, starrte zu ihr herauf. Im Pfeifenkopf befanden sich zwei Angelhaken und das steinerne Senkgewicht eines Fischnetzes.
Wanderer hörte eine leise männliche Stimme aus der Pfeife dringen; ihrem Klang folgten das Echo weiblichen Gelächters und das Geräusch einer sich am Ufer brechenden Brandung. »An all das erinnert sich das Bündel«, sagte er versonnen. »Ich wüßte gern, wem es gehört hat.«
Nachtschatten strich liebevoll über die Otterfigur. »Leuten, die am Meer lebten. Ich rieche die salzhaltige Luft - sie riecht genauso, wie die Händler es beschrieben haben. Und ich höre -«
Sie verstummte und drehte sich nach der übermütig kichernden Orenda um. Das Mädchen hatte das Ohr an Flechtes Kopf gelegt -genau an die kahle Stelle, an der Wanderer das runde Knochenstück aus dem Schädel entfernt hatte.
»Hörst du es?« fragte Flechte.
Orenda lächelte. »Ja. Ist das die Trommel der Ersten Frau?«
Flechte nickte. »Sie sagte mir, ich solle jederzeit hören können, wie sie das Lied von meinem Tod spielt. Damit ich mich stets daran erinnere, wie es war, als ich die Flügel des Falken bekommen habe.«
»Dabei mußtest du sterben?« Orenda zuckte zurück. »Sie hat dich getötet?«
»Nein, nicht sie. Mein Geisterhelfer, Vogelmann, hat mich mit seinem Schnabel zerfetzt und dann verschluckt.«
Orenda richtete sich auf und starrte Flechte aus weit aufgerissenen Augen an. »Ich glaube, den möchte ich
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