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Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss

Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss

Titel: Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gear & Gear
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versengt. Um den kühlen Atem der Morgendämmerung abzuhalten, schlang sie die wärmende Decke fest um ihre Schultern. Obwohl sie die letzten sechs Tage fast ununterbrochen geschlafen hatte und ihr rotes Kleid und die Hirschlederstiefel an ihr klebten wie eine zweite Haut, verlangte ihr Körper nach mehr Schlaf. Aber die Aussicht, in die Unterwelt eintauchen und Binse wiedersehen zu können, ließ ihr keine Ruhe. Erschöpft kroch sie über den weichen, grasbedeckten Boden und griff nach dem Machtbündel des Schlammkopfs.
    Sie ließ sich zurücksinken und drückte es schützend an ihre Brust. Mit der Spitze ihres Zeigefingers berührte sie die blaue Spirale der Mondjungfrau und folgte ihrer Linie über Vater Sonnes vier konzentrische Kreise in die weißen und schwarzen Figuren der Heldenzwillinge, die die Menschen zu Anbeginn der Welt durch eine Öffnung im Boden in dieses reiche Land geführt und sie gelehrt hatten, in Harmonie mit diesem Land zu leben.
    Mit einer Hand strich sie über die Umrisse des verzerrten Gesichts von Bruder Schlammkopf. Leise stimmte sie das monotone, uralte Lied der Mächte an:
    Ich rufe dich, Erste Frau, ich rufe. Ich habe mich in die kräftigen Farben des Vogelmanns, der Großen Schlange des Himmels, gehüllt, Karmesinrot, Smaragdgrün, Sandbraun.
    Öffne mir das Tor. Ich rufe, rufe. Ich möchte hinabsteigen aus dem hochgelegenen Land, hinunter in die Unterwelt und mit dir reden.
    Erste Frau, hilf mir. Vogelmann, hilf mir.
    Ich rufe, rufe.
    Öffne das Tor zum Quell.
    Voller Ehrfurcht küßte Nachtschatten das Bündel des Schlammkopfs und schnürte die Lederbänder auf. Vater Sonne war inzwischen höher gestiegen. Seine Strahlen drangen an tausend Stellen in die Hütte und sprenkelten ihre wirren Haare wie mit Kupferstaub. Vorsichtig entnahm sie dem Bündel einen kleinen Korb und ein schwarzes Gefäß. Behutsam stellte sie die Gegenstände auf den Boden.
    Noch einmal küßte sie das Bündel, bevor sie es beiseite legte.
    »Ich komme, Erste Frau. Hilf mir, hilf mir.«
    Sie hob den Korb auf, betrachtete prüfend die verblassenden roten Linien und entfernte den geflochtenen Deckel. Ein graues Pulver bedeckte den Boden. Nachtschatten sprach ein kleines Dankgebet zu Schwester Datura. Händler brachten diese kostbaren Samen von Inseln im Großen Salzwasser weit im Südwesten. Die Samen kosteten ein Vermögen, aber ihre zwei gefüllten Vorratsschalen reichten für ein ganzes Leben. Sie tauchte die Hand in den Wasserkrug, sprengte ein wenig Wasser auf die pudrigen Samen und goß ihr schwarzes Quellgefäß halbvoll mit Wasser.
    Nachtschatten atmete tief ein. Die feuchte Morgenluft stach scharf in ihre Lungen. Sie zwang ihre Seele in ruhig fließende Bahnen, steckte einen Finger in die graue breiige Masse in ihrem Korb und massierte diese in die Haut ihrer Schläfen.
    »Ich komme, Vogelmann. Hilf mir. Hilf mir. Hilf mir.«
    Ein plötzlicher Windstoß fegte durch die Hütte und zerrte an ihren langen Haaren. Erst als der Wind nachließ, wagte es Nachtschatten, das Quellgefäß aufzuheben und hineinzublicken.
    Beim Anblick ihres Spiegelbildes im Wasser erstarrte sie. Ihr wirres Haar umrahmte ihr Gesicht mit purpurroten Kreisen um die Augen. Ihre vollen Lippen und die nach oben gerichtete Nase wirkten angespannt, als ringe sie darum, etwas in diesem bronzefarbenen Körper gefangenzuhalten. Sie fühlte, wie Schwester Datura in ihre Knochen sickerte und mit granitharter Hand nach ihrer Seele griff, um die Angst aus ihr herauszupressen - oder sie dieser Angst wegen zu töten.
    Nachtschatten schauderte, Übelkeit bemächtigte sich ihrer. Ihre Seele drehte sich, und sie begann mit ihrer Schwester den Tanz des Todes zu tanzen. Beider Seelen verbanden sich wie die von Liebenden, wiegten sich, kämpften gegeneinander, erfreuten sich aneinander oder ängstigen sich gegenseitig, während sie über das todbringende, zum Quell der Ahnen führende Tor hinweg tanzten. Vorsichtig drehte Nachtschatten über der endlosen Tiefe eine Pirouette und folgte Datura durch die Dunkelheit.
    Den aufwallenden Brechreiz bekämpfte Nachtschatten mit inbrünstigem Singen. Sie sang mit aller Kraft in das Quellgefäß und betete um die Hilfe und Führung von Vogelmann und Bruder Schlammkopf.
    Und endlich begann sich ihre Seele von ihrem Körper zu lösen, entfloh in Spiralen durch Nachtschattens Nabel und drang wie dünne Fäden azurblauen Lichts in das Quellgefäß ein.
    Ich komme, Schlammkopf. Ich komme. Binse, hörst du mich? Als

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