Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
Ein Holzstapel befand sich neben den im Kreis um die Feuerstelle gelegten Steinen. Er sah unberührt aus. Als sie an den Zelten vorbeigingen, hörte Sonnenjäger leise Schreie und Stöhnen. Der Gestank von Urin und Erbrochenem drang zu ihm heraus.
Zecke hielt Sonnenjäger fest am Arm. »Es muß dieselbe Krankheit sein, die die Bergdörfer heimgesucht hat, Sonnenjäger. Hohes Fieber. Die Kranken haben aus dem Mund geblutet. Die kleinen Kinder …« Seine Stimme brach. »Die Kinder siechen elend vor unseren Augen dahin. Im ganzen Dorf leben nur noch zwölf Menschen.«
Sonnenjäger erbleichte. Als er das letzte Mal hiergewesen war, hatte das Walbarten-Dorf fünfunddreißig Bewohner gezählt.
»Laß mich mein Heiler-Bündel holen. Führe mich dann in die Zelte, damit ich sehen kann, bei wem die Krankheit am schlimmsten ist. Ich kenne diese Krankheit. Wenn es jemanden gibt, der seit drei Tagen davon befallen ist…«
»Mehrere Menschen.« Zecke drückte seinen Arm noch verzweifelter. »Aber Kleiner Salbei und ihr Sohn, Vier Speere, gehören zu den Kranken, denen es am schlechtesten geht. Sie wohnen im letzten Zelt.« Mit zitternder Hand zeigte er darauf.
Sonnenjäger nickte. »Warte dort auf mich. Ich bin gleich zurück.«
Er ließ Zeckes Arm los und eilte mühsam durch den tiefen Sand zu dem Espenwäldchen, wo Turmfalke auf ihn wartete. Sie hatte schon damit begonnen, Helfers Schleppgestell abzuladen und Sonnenjägers und ihre eigenen Sachen zu sortieren. Sonnenjäger hob sein Heiler-Bündel vom Boden auf. »Turmfalke, bitte komm nicht in das Dorf. Bleib hier. Dort wütet eine Krankheit. Ich kenne sie von früher und weiß, daß sie tödlich ist. Ich möchte mit dir und Wolkenmädchen kein Risiko eingehen. Ich werde bald zurück sein … Nein, vielleicht nicht vor morgen. Aber …«
»Verschwende keine Zeit, Sonnenjäger. Du brauchst mir nichts zu erklären. Geh zu ihnen.« Ihr hübsches Gesicht war voll Sorge. »Ich werde eine Hütte bauen, ein Feuer anmachen und auf dich warten. Hilf so vielen Menschen wie möglich.«
Er umarmte sie, dann trat er zurück und lief über den Sand zum südlichsten Zelt. Zecke stand davor.
Es maß vier Körperlängen in der Tiefe und drei in der Breite. Von außen sah es heruntergekommen aus. Die roten und blauen geometrischen Muster waren völlig verblaßt.
»Beeil dich«, bat Zecke. »Bitte, beeil dich!«
Das Dorfoberhaupt hielt den Türvorhang offen, und Sonnenjäger schlüpfte in die Dunkelheit. Ein penetranter Gestank von Schweiß und Exkrementen umgab ihn. Das Feuer in der Mitte des Zeltes war zu weißer Asche niedergebrannt. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er an der hinteren Zeltwand ordentlich aufgerollte und mit Riemen befestigte Seile hängen sehen. Vom Firstbalken hingen buntgefärbte Nußkörbe herab. Der süße Duft von Kastanienmehl drang aus dem am nächsten hängenden Korb. Auf dem Stamm, mit dem die nördliche Zeltwand am Boden befestigt war, lagen ein paar aus Muscheln und Schneckengehäusen gefertigte Löffel und Schalen, einige große Platten aus Rinde, in die zur Verzierung mehrere Gehäuse der Haliotisschnecke eingelegt waren, ein hölzerner Rührstab und mehrere Specksteinpfeifen in der Form von Meeressäugetieren.
In dem Zelt befanden sich drei Personen: zwei Frauen und ein kleiner Junge. Die einzige, die noch in der Lage war, ihn zu begrüßen, war eine alte Frau, die ein prächtig besticktes Kleid trug. Brust und Saum des Kleides waren mit blauen, gelben und weißen Wellenlinien verziert. Aber das Kleidungsstück war schmutzig. Graues Haar hing ihr in feuchten, wirren Strähnen um das matte Gesicht. Sie stand langsam auf und kam zittrig auf sie zu.
»Sonnenjäger«, flüsterte sie ehrfurchtsvoll. Ihre Finger krallten sich in die Fransen seines Ärmels, als ob sie befürchtete, er könne jeden Moment wieder verschwinden, wenn sie ihn nicht festhielt. »Ich bin Falkenschwanz. Das ist meine Tochter, Kleiner Salbei.« Sie zeigte auf eine junge Frau, die an der hinteren Zeltwand vor Kälte zitternd unter einem Berg von Fellen lag. Ein kleiner Junge lag zu ihren Füßen. In dem Dämmerlicht des Zeltes konnte Sonnenjäger nur ihre bleichen Gesichter erkennen.
»Und das ist mein Enkel Vier Speere.«
Der Junge sah noch elender aus als seine Mutter. Die Augen rollten unkontrolliert hin und her, und seine Haut glühte fleckig rot. Er bewegte die Lippen in lautlosen Worten.
»Wie alt ist Vier Speere?« fragte Sonnenjäger und
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