Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
kniete sich neben dem Jungen nieder. Er zog die schweren Felldecken beiseite und legte seine kühle Hand auf Vier Speeres nackte Brust. Der Junge war sehr heiß.
In Falkenschwanz' altem Gesicht arbeitete es. »Drei Sommer. Er ist… er ist der einzige Enkel, den ich noch habe.« Sie bedeckte den Mund mit ihrer Hand, um nicht laut zu weinen.
»Er wird wieder gesund, Falkenschwanz«, versprach Sonnenjäger. »Ich bin mir sicher. Ich habe solche Fälle schon öfter gesehen. Die Macht kann. ihn heilen.«
Die alte Frau senkte das Gesicht in die Hände und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Sonnenjäger öffnete sein Bündel und nahm ein muschelförmiges Seeohrschneckenhaus, das ihm als Schale diente, seine Otter-Pfeife und den aus dem Fuß des Großen Weißen Giganten gebrochenen Bergkristall heraus. Er stellte die Gegenstände in einer Reihe neben dem Jungen auf. Dann ergriff er einen mit einer Mischung aus getrockneter Weidenrinde und Pappelknospen gefüllten Beutel.
»Falkenschwanz, ich brauche deine Hilfe.«
Sie eilte zu ihm. Ihre Augen waren weit geöffnet und glänzten immer noch von Tränen. Auf den Wangenknochen hatte sie rote Flecken. »Gerne, Sonnenjäger. Was soll ich tun?«
Er öffnete den Beutel. »Würdest du bitte etwas Wasser zum Kochen bringen und den Inhalt dieses Beutels hineinschütten? Wenn das Gemisch zu einer milchigen Flüssigkeit verkocht ist, werden wir sie Vier Speere und Kleiner Salbei einflößen. Sie wird das Fieber senken.«
Falkenschwanz nahm den Beutel und humpelte durch das Zelt, um eine Specksteinschüssel zu holen.
Sie stellte sie neben die Feuerstelle und wühlte mit einem Stock nach der unter der weißen Asche versteckten Glut. Alle kalte Asche kratzte sie zur Seite und häufelte die noch glühenden Holzkohlenstückchen in der Mitte der Feuerstelle zusammen. Dann legte sie Anmachholz auf. Das Feuer prasselte, und die kleinen Flammen warfen einen zuckenden orangefarbenen Schein über das Innere des Zeltes. Falkenschwanz legte noch mehr Holz auf die Flammen. Sonnenjäger betrachtete die verblaßten Wandmalereien: der einäugige Alter-Mann-Oben mit weit geöffnetem und silbrig glänzendem Auge. Ihm folgten rote Mondsicheln in verschiedenen Phasen des abnehmenden Mondes.
Schließlich war das vollständig geschlossene Auge von Alter-Mann-Oben als schwarzer Kreis vor einem mit Holzkohle grau gefärbten Hintergrund dargestellt.
Was für eine schöne und sorgfältige Arbeit. Sonnenjäger wünschte, Turmfalke könnte sie sehen. Er konnte sich vorstellen, wie sie sanft berührt lächeln würde. Ihr Gesichtsausdruck wurde immer zärtlich, wenn sie eine sorgfältig und kunstvoll gearbeitete Sache betrachtete.
»Sonnenjäger!« Zecke stand an der Tür und schaute ihn bedrückt an. »Kann ich dir helfen?«
»Ja, bitte frage Turmfalke, die Frau, mit der ich unterwegs bin, ob sie mehr Weidenrinde und Pappelknospen für mich sammeln kann. Sie wird wissen, was ich brauche. Aber ich mache mir Sorgen um sie und das Baby, Zecke. Achtest du bitte darauf, daß sie nicht in die Nähe der Zelte kommt? Das Baby ist noch so klein, und Turmfalke …«
Zecke lächelte, als er den besorgten Tonfall in Sonnenjägers Stimme hörte. »Ja, verstehe. Ich passe schon auf. Ich gehe gleich jetzt hin.« Er wollte gerade durch den Türvorhang hinausschlüpfen, da hielt er inne. Er befeuchtete die Lippen mit der Zunge und richtete sich langsam auf. »Hast du … hast du gesagt, ihr Name sei Turmfalke?«
Sonnenjäger war völlig darin vertieft, Vier Speere für die Heil-Zeremonie vorzubereiten. Er nahm die Felldecken von dem Jungen und bürstete dessen Haar zurück. So entging ihm der entsetzte Klang in den Worten des Dorfoberhaupts. »Ja. Sie schlägt gerade unser Lager in dem Espenwäldchen östlich des Dorfes auf. Beeil dich, Zecke. Alle, die Fieber haben, werden diesen Weiden-Pappel-Tee benötigen. Das beste wäre, wenn wir einen großen Kochbeutel voll Tee beim Hauptfeuer auf dem Dorfplatz zubereiten könnten. Dann kann jeder, der ihn braucht, ihn schnell bekommen.«
Zecke schluckte und nickte dann. Seine Stimme war leise und zögernd. »Ja. Ich werde … ich werde es Turmfalke sagen.« Er schlüpfte unter dem Türvorhang hindurch.
Als Zecke sich näherte, kniete Turmfalke gerade im kühlen Schatten der Espen und füllte ihren Wasserbeutel an einer kalt und klar aus einem Felsriß rieselnden Quelle. Um sie herum wuchs ein Dickicht aus jungen Espen, Weiden, Farnen und Pfefferminze. Sie hatte den Tragesack
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