Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
mit Wolkenmädchen noch nicht vom Rücken genommen, und beim Anblick des über den Sand eilenden alten Mannes begann das Baby laut zu weinen. Helfer bellte laut und wedelte mit dem Schwanz. Doch er blieb als Wache beim Lager, wie Turmfalke es ihm befohlen hatte. Turmfalke versuchte Wolkenmädchen zu beruhigen. Sie faßte nach hinten und ergriff ihre Tochter bei der winzigen Hand, dann stand sie auf. Wolkenmädchen verstummte. Turmfalke schnürte den Wasserbeutel mit dem Riemen zusammen und hängte ihn an ihren rechten Unterarm.
Keuchend lief das Dorfoberhaupt auf sie zu. Dicke Schweißtropfen rannen über sein faltiges Gesicht.
Sie konnte die Blutflecken auf seinem bockledernen Hemd sehen.
»Turmfalke!« rief er. »Sonnenjäger«, er schnappte nach Luft, »Sonnenjäger bittet dich, Fieberpflanzen für ihn zu sammeln!«
Sie zog die Brauen zusammen und ging ihm entgegen. »Welche Fieberpflanzen?«
»Nein, halt!« befahl Zecke und hob abwehrend eine Hand. »Komm mir nicht zu nahe. Bitte! Vielleicht habe auch ich die Krankheit.« Er beugte sich vor, stemmte die Hände auf die Beine und holte mehrmals tief Luft. Sein grauer Zopf fiel nach vorn und verdeckte zum Teil sein runzliges Gesicht.
»Welche Fieberpflanzen, Zecke?«
Er richtete sich auf. »Pappelknospen und Weidenrinde. Wenn du sie sammelst und in der Nähe der großen Feuerstelle auf dem Dorfplatz niederlegst«, er zeigte die Richtung mit seinem mageren Arm, »dann hole ich sie und schütte sie in den Kochbeutel.«
»Ja, in Ordnung. Ich werde mich beeilen!«
Zeckes ängstliches Gesicht glättete sich, als Turmfalke sofort ihren Wasserbeutel an einen Espenzweig hängte und vor einem dichten Weidengebüsch auf die Knie fiel. Sie nahm die Feuersteinschneide aus dem Bündel an ihrer Hüfte und begann die roten Stämmchen durchzusägen.
Zeckes schwaches Lächeln enthielt mehr Dankbarkeit, als Turmfalke je in ihrem Leben empfangen hatte. Hastig sammelte sie die Weidenstämmchen und lief um die Quelle herum zu einem dichten Bestand junger Espenschößlinge. Dort schnitt sie mehrere der frischesten Knospen ab. Sie wußte nicht warum, aber Espe, Weide und Pappel schienen die gleiche fiebersenkende Wirkung zu haben.
Zecke hielt die Hände trichterförmig vor den Mund und rief: »Ich warte bei der Feuerstelle auf dich!«
»Ich komme bald!«
Er nickte und lief auf unsicheren Beinen zum Dorf zurück, wankte vor Müdigkeit und vielleicht auch von der anstrengenden Pflege kranker Verwandter.
Turmfalke wandte sich wieder den Schößlingen zu. »O Wolkenmädchen, ich frage mich, wieviel Sonnenjäger braucht. Nach der Zahl der Zelte zu schließen müßten hier dreißig oder vierzig Menschen leben. Aber nicht alle werden krank sein, und ich weiß nicht, wie lange die Krankheit schon gewütet hat.« Sie überlegte. »Ich nehme mal an, daß er bis heute abend zumindest genug für zwanzig Leute braucht. Morgen früh werde ich dann mehr sammeln.«
Als sie genug Espenknospen abgeschnitten hatte, stopfte sie die in ihr Bündel und ging zu ihrem Lager in dem großen Wäldchen. Weiße Stämme ragten wie Festungspalisaden um sie auf. Die dreieckigen Blätter über ihrem Kopf zitterten und raschelten. Sie setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf den Stapel von Fellen und zog ihre Feuersteinschneide heraus, um die Weidenstämmchen zu schälen. Sie löste die rote äußere Rinde ab und legte die faserigen, weißen Streifen des Basts getrennt hin.
Wolkenmädchen girrte auf Turmfalkes Rücken und blubberte mit Speichelblasen. Turmfalke wandte ihr den Kopf zu, und Wolkenmädchen lächelte breit.
»Wie gut du es hast, daß du noch ein Baby bist«, sagte Turmfalke. »Du verstehst nicht, wie traurig es hier ist. Diese Menschen sind verzweifelt. Hast du gesehen, wie Zecke Sonnenjäger bei der Begrüßung umklammert hat? Er sah aus, als wäre ihm gerade Geist-Helfer begegnet. Aber alle empfinden diese Verehrung für Sonnenjäger. Er ist der einzige auf der Welt, der seine ganze Seele für die hingibt, die ihn brauchen. Ich glaube nicht, daß er nein sagen kann. Nicht, wenn er weiß, daß die Menschen ihn brauchen.«
Mit zusammengezogenen Brauen leerte Turmfalke ihr Bündel auf dem Sand aus und füllte es mit der abgeschälten Weidenrinde und den Espenknospen.
Helfer saß auf der anderen Seite des Fellstapels und schaute ihr zu. Seine braunen Augen schimmerten.
»Ich bin bald zurück, Helfer. Bleib hier und paß auf!«
Sie erhob sich und lief durch den tiefen Sand, in dem sie
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