Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
geschüttelt. Verwirrt blinzelte sie, denn einen Moment hatte sie vergessen, was sie eigentlich tun wollte. Das bewirkte die Kälte, wenn sie tief in den Körper eindrang - man vergaß sogar, wer man war.
Noch einmal ging Turmfalke zu dem Packrattennest und fand diesmal eine Handvoll ineinander verknäultes, langes, trockenes Gras genau das, was sie als Zunder brauchte, wenn sie nicht den Kopf verlor und es ihr gelang, etwas Glut zu erzeugen.
Wolkenmädchen hatte wieder begonnen, laut und wütend zu schreien.
Turmfalke suchte nahe der Rückwand eine natürliche Vertiefung im Boden. Sie hockte sich so hin, daß ihre Schultern den restlichen noch in die Höhle eindringenden Wind abhielten, und legte ihre eben gefundenen Feuerhölzer nieder. Das rissige Kiefernscheit nahm sie zwischen die Füße und setzte dann die Spitze des Traubenkirschenhölzchens in seiner Mitte auf. Obwohl der Schmerz im Brustbein sie zusammenzucken ließ, drückte sie mit dem Brustkorb eine Vertiefung in das Kiefernholz. Nur eine kleine Vertiefung, doch sie reichte aus, um der Spitze des Traubenkirschenhölzchens Halt zu geben.
Dann fing sie an, das Hölzchen wie einen Bohrer zwischen ihren schmerzenden Handflächen hin und her zu drehen. Sie drehte, so schnell sie nur konnte.
Es war nicht einfach. Mehrmals rutschte ihr die Spitze aus der Vertiefung. Doch bald hatte sie ein winziges Loch gebohrt, und abgeraspeltes Holzmehl hatte sich wie feiner Staub darum herum gelegt.
Sie drehte weiter. Das Hölzchen grub sich tiefer ein, und die Reibung erzeugte immer mehr Wärme in dem Kiefernholz.
Als sie befürchtete, es nun wirklich nicht länger aushalten zu können, erhob sich endlich ein dünner Faden blauen Rauchs.
Ihre Finger waren etwas beweglicher geworden. Sie konnte nun Daumen und Zeigefinger zusammenfuhren, doch die Bewegung schmerzte sie bis in die Knochen.
Du hast keine Zeit, an Schmerz zu denken, Turmfalke. Du mußt ein Feuer haben.
Sie drehte das Hölzchen schneller. Als das Holzmehl in dem Löchlein zu glühen begann, kippte sie es schnell in das vertrocknete Gras, das sie aus dem Packrattennest geholt hatte, und blies sanft darauf. Viermal mußte sie das Ganze wiederholen, bevor der Zunder Feuer fing. Das Gras rollte sich schwarz zusammen, Flammenzungen schössen empor. Turmfalke fütterte sie mit Zweigen und biß sich nervös auf die Lippen, als die Flamme fast wieder verglüht wäre. Als einer der größeren Zweige Feuer fing, stieß sie einen erstickten Freudenschrei aus. Sie holte mehr Holz aus dem Nest und legte immer größere Stücke auf, bis schließlich ein richtiges Feuer loderte.
Am liebsten hätte sie sich vors Feuer fallen lassen und wäre eingeschlafen. »Jetzt noch nicht«, murmelte sie.
Sie nahm das Packrattennest völlig auseinander und baute mit den Hölzern, getrockneten Wacholderästen und kleinen Steinen eine Mauer vor dem Feuer. Sie war nicht besonders hoch, doch hinderte sie die Wärme am Entweichen und bildete einen winzigen Schlupfwinkel für Wolkenmädchen und sie selbst.
Turmfalke holte ihre Tochter und ihr Bündel in die Nische und ließ sich gegen die Steinwand sinken.
Die Wärme der Flammen verstärkte ihr Zittern noch, doch dieser Schmerz fühlte sich wundervoll an.
Wolkenmädchen schrie jämmerlich und schlug mit den Fäustchen um sich.
»O Baby, laß mich doch nur einen Moment sitzen.«
Doch Wolkenmädchens unablässiges Geschrei zwang Turmfalke, ihr durchnäßtes Kleid vorn zu öffnen und ihre Tochter an die Brust zu nehmen. Das Baby mußte wohl etwas Milch bekommen, denn es wurde sofort still. Vielleicht war es aber auch nur die Berührung der vertrauten Brustwarze, die es beruhigt hatte.
Turmfalke griff in ihr Bündel und zog ein langes Stück getrocknetes Tapirfleisch heraus. Es war naß geworden, doch sie aß und aß, bis ihr Magen rebellierte. Nahrung würde ihrem Körper helfen, sich von innen aufzuwärmen.
Als der Abend hinter ihrer Schutzmauer dunkler wurde, loderte das orangefarbene Licht der Flammen wie eine Feuersbrunst. Keiner vom Sternenvolk konnte es dagegen aufnehmen. Die Sterne waren verschwunden. Die Mauer aus Hölzern und Ästen würde das Licht dämpfen, aber dennoch würde der Schein vom anderen Ufer aus zu sehen sein. Doch Turmfalke konnte es sich nicht leisten, darauf Rücksicht zu nehmen. Sie mußte wieder warm werden. Als sie sich in dem bitterkalten Wasser mit den Beinen vorwärts gestoßen hatte, hatte sie davon geträumt, ein so riesiges Feuer zu entfachen, daß
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