Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
hatte. Die Köpfe gesenkt, gingen beide vorsichtig den absteigenden Pfad hinunter.
Sie sah pralle Knospen, die darauf warteten, sich in der Sonne entfalten zu können. Auf dem Waldboden waren die ersten grünen Wildpflanzen erwacht; selbst das Moos schimmerte neu belebt in Verheißung des Frühlings.
Ist es das, was ich will? Ein neues Leben? Eine neue Liebe?
Sie drehte sich verstohlen um und sah, wie er behende den Pfad hinunterschritt. Er ging mit einer natürlichen Körperbeherrschung, machte keine überflüssige Bewegung. Er war ein Mann im Einklang mit sich und der Welt.
Sie durfte sich nicht ausliefern. Nicht so schnell.
21. KAPITEL
Tagelanger warmer Regen hatte dem Ilini Hochwasser gebracht, das die Ufer bis in die Niederungen überschwemmt hatte. Die Kriegskanus der Khota näherten sich ihrem Ziel, und Perle sah es voller Angst.
Sie waren an einer Schleife von Vater Wasser abgebogen und dann auf dem Ilini nach Norden gefahren. Durch das Hochwasser war der Kanal viel breiter geworden, und das Wasser floß langsam.
»Sehr gut«, sagte Grizzlyzahn und deutete auf das überschwemmte Gelände. »Jetzt sind die toten Seitenarme wieder voller Fische, und der Schlamm düngt die Felder.«
»Gibt eine gute Ernte dieses Jahr«, meinte Mondnarbe zustimmend, »wenn uns nicht der späte Regen das Maigras und die Zwerggerste wegschwemmt. Ist jetzt schon öfter vorgekommen.«
Soll doch alles überflutet werden, sollen sie alle verhungern!
Perle saß auf ihrem Sack mit Saatmais, gefesselt und so hoffnungslos wie noch nie.
Die Hügel schienen hier nicht so dicht mit Bäumen bewachsen zu sein wie weiter südlich. Es waren offenbar Eichen oder Hickorybäume, auch Haselnußbüsche konnte Perle erkennen.
Dann bemerkte sie auf einer Hügelspitze einen Turm. War das ein Ausguck? Für wen?
Grizzlyzahn erhob sich, gegen den Paddeltakt sein Gleichgewicht haltend, und stieß sein zugespitztes Paddel fünfmal in den Himmel.
Perle beschattete ihre Augen und sah die Silhouette eines Wächters, der von dem Turm herunterstieg.
»Sie wissen, daß wir kommen«, sagte Grizzlyzahn zufrieden und setzte sich wieder.
»Sieh mal!« rief Trabender Hund. »Da hat Wolf der Toten die Dicken Decken in den Hinterhalt gelockt.«
»Und da hat der Doppelwurfclan ein neues Feld gerodet«, rief Mondnarbe. Unter den Bäumen kamen zwei schmale Kanus hervor; eines drehte bei, das andere schoß flußaufwärts.
Grizzlyzahn rief: »Sie benachrichtigen die Clans. Meine Krieger, wir sind zu Hause! Wir sind Helden!
Wir haben es vollbracht! Uns ist gelungen, was bisher noch keinem Khota gelungen ist.«
Wilde Schreie und Jubelrufe wurden laut. Jetzt legten sie ihre ganzen Kräfte in die Paddelschläge, und die Kanus flogen elegant über das braune Wasser.
Denk nach, Perle! Schau hin und beobachte!
Vielleicht konnte sie in dem Durcheinander, das ihre Ankunft verursachen würde, fliehen. Aufgeregt würden die Leute herandrängen und ihre Freunde begrüßen. Sie betrachtete die gezackten Klippen im Westen sehr genau und sah die Silhouetten von Erdhügeln. Von dort stiegen spiralförmig Rauchwölkchen in den Abendhimmel auf.
Langsam wurde es dunkel. Sie mußte wenigstens eine oberflächliche Kenntnis des Geländes gewinnen. Wohin sollte sie laufen?
Das einsame Kanu war nun in Rufweite. Begrüßungen wurden ausgetauscht.
»Was gibt's Neues?« rief Grizzlyzahn.
»Nicht viel, Kriegsherr. Einige Überfälle, einige beraubte Händler. Deine Familien und Clans sind wohlauf. Wie war die Fahrt?«
»Wunderbar! Wir haben Sachen gesehen, die einfach… ihr würdet's nicht glauben«, rief Grizzlyzahn und stieß erneut Jubelschreie aus.
Bravourös steuerten die Heimkehrenden die Kanus in einen überfluteten Seitenarm. Weitere Kanus kamen in Sicht und schössen den Kanal hinunter, um die Ankömmlinge willkommen zu heißen.
Zum ersten Mal sah Perle, wie die Khota lebten und fand, daß die Leute ungewöhnlich gut gekleidet waren. Viele trugen glänzenden Glimmer-, Bleiglanz- und Kupferschmuck und Muscheln. Ihr Haar war in straffen Knoten direkt über der Stirn zusammengefaßt. Ihre Kleidung bestand aus wadenlangen Hemden mit einem Gürtel um die Taille, ihre Mokassins waren kniehoch und leuchtend rostrot gefärbt. Sie sah rote, blaue und braune Gewänder, die bevorzugte Färbung aber schien hellgelb zu sein. Das Muster auf den Stoffen war immer ein stilisierter purpurfarbener Wolf, zweifellos mit dem Saft von Kermesbeeren eingefärbt.
»Wer ist das Weib?«
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