Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
er machte eine Pause, »…
dann schlug sie mich, Händler. Bestrafte mich viel zu hart für Sachen, für die ich gar nichts konnte.«
Otter streichelte seine Flöte.
»Einmal brach sie mir den Arm. Warf mich in wilder Wut durch den Raum. Niemand hielt sie auf. Der Mann, den sie geheiratet hatte, der mich vermutlich auch gezeugt hat… den hatte sie schon vor Jahren aus dem Haus gejagt. Das heißt nicht, daß sie nicht unzählige andere Männer gehabt hätte. Sie brauchte Männer. Zum Schluß holte sie sich Knaben in ihr Bett. Verstehst du, sie war besessen.«
»Und dein Clan?«
»Sie haben etwas geahnt. Mein Großonkel hat mich schließlich in die Enge getrieben und ausgefragt.
Ich hatte Todesangst, denn meine Mutter hätte mich getötet, wenn ich sie verraten hätte, und mein Großonkel, wenn ich es ihm nicht gesagt hätte.«
»Aber die Leute müssen es gewußt haben«, entgegnete Otter. Der Clan wußte immer über alles Bescheid.
»Das haben sie auch. Die Clanführer hatten dem Großonkel ihre Entscheidung mitgeteilt. Er hatte die Verantwortung, aber er war zu alt. Ich mußte ihm erzählen, was meine Mutter mir angetan hatte, und was sie anderen antat. Sie verletzte Menschen; sie war böse.«
Es folgte ein langes Schweigen.
Dann sagte Otter: »Dein Großonkel hatte also die Pflicht -« »Er konnte sie nicht töten«.
Schwarzschädels Stimme klang heiser. »Er war zu alt, verletzt in vielen Kriegen. Und so fiel es mir zu.
Ich … ich kam von hinten, sie schlief. Ich hatte entsetzliche Angst, sie könnte aufwachen, sich umdrehen, mich sehen.« »Aber du hast es getan?«
»Ja.« Schwarzschädel schnaubte verächtlich. »Die Menschen sind komisch, Händler. Danach hatten sie Angst vor mir. Es zählte nicht mehr, daß meine Familie… letztlich machten sie mich für das Verhalten meiner Mutter verantwortlich. Unser Erbrecht ist immer noch durch die Mütter bestimmt, anders als beim Gipfelclan. Mit diesem Keulenschlag wurde ich zum Ungeheuer. Ich weiß, daß sie schlecht war, böse und von Dämonen besessen. Aber sag, Händler, was wäre, wenn man dich zwingen würde, Blaue Kanne zu töten ? Wie würden dich dann die Leute ansehen?«
Otter konnte es sich vorstellen. Was immer die Gerechtigkeit auch fordern mochte, man würde ihn anschließend verabscheuen. »Dann bist du also den Weg des Kriegers gegangen?«
»So ist es. Mein Großonkel zeigte mir den Weg. Lehrte mich, mein Leben in Ordnung zu bringen. Er zwang mich zur Disziplin. Ich sollte der Beste werden, den es je gab. Und wie du siehst, wache ich noch immer über mein Volk. Viele haben auch diesen Blick nicht mehr in ihren Augen. Trotzdem werde ich ihnen nie verzeihen, wozu sie mich gezwungen haben.«
»Dich trifft keine Schuld. Du hast getan, was zu tun war. Zum Besten deines Clans.«
Schwarzschädel brummte: »Ich habe Frieden gemacht mit meiner Seele. Meine Mutter war ein Monstrum, sie hat Unschuldige mißbraucht, hat mir Schmerzen zugefügt und mich erniedrigt, bis ich mich selbst mehr haßte als sie. In ihrer Seele hat etwas Fürchterliches gewuchert. Solche Menschen muß man vernichten, sonst stecken sie die Gesellschaft an. Aber …«, er schaute auf seine Hände und spreizte sie, »aber man sollte einem Kind nicht solche Verantwortung aufladen.«
»Da hast du recht. Ich habe so etwas auch noch nie gehört.« Schwarzschädel war es unbehaglich. »Ich habe das bisher nur dem Großonkel erzählt, bevor er starb.« Er schluckte. »Ich möchte nicht, daß darüber geredet wird, Händler.«
»Ich würde dein Vertrauen nie mißbrauchen, Krieger. Das bleibt unser Geheimnis.«
Grüne Spinne, der sich auf den Packen umsetzte, fügte sanft hinzu: »Und nicht meines.«
Der leicht bewölkte Himmel, von der Morgensonne rosig gefärbt, hatte sich im Osten aufgehellt.
Sternmuschel fröstelte im kalten Ostwind, zog die Decke fester um sich und kletterte weiter.
Sie drückte die kalte Hand von Silberwasser und flüsterte: »Es ist bald soweit, Liebes.«
Die Wanderung auf diesen windgepeitschten Gipfel hatte fast die ganze Nacht gedauert, denn in der Dunkelheit ging es nur langsam vorwärts. Die Kälte des Morgens war beißend, und Sternmuschel versuchte, ihr Zittern zu unterdrücken. Ihr Magen knurrte vor Hunger.
Silberwasser schien auf etwas zu lauschen. Sternmuschel hörte nichts, aber sie fragte sich voller Angst, was es wohl sein mochte. Seit der Nacht in der Hütte von Muschelschale hatte sich Silberwasser verändert. Sie war sehr ruhig
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