Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
geworden, vielleicht befand sich ihr Geist noch auf dem Flug übers Land?
Oder war es etwas anderes? War es die Maske? Denk nicht daran! Aber Sternmuschel grübelte.
Es war der Morgen der Tagundnachtgleiche im Frühling - einer der vier höchsten Feiertage des Volks.
Heute würden Männer und Frauen in der ganzen Welt ihre Gebete zu den Geistern senden. Sie würden zu dem, den sie Der Geheimnisvolle nannten, beten, zu Erster Mann und Bunte Krähe.
»Es ist soweit«, sagte Langer Mann.
Der junge Mann namens Grüßt die Sonne nickte und lächelte, als er sie über eine steinbedeckte Wiese zu einem kleinen Erdhügel führte. Er sah gut aus, war jünger als Sternmuschel und wirkte sehr würdevoll.
Langer Mann hatte sie hierhergeführt, in östliche Richtung vom Blauentenclan. Sternmuschel war überrascht, was er für Schleichpfade kannte und wie vertraut er mit Leuten auf den abgelegenen Gehöften war.
Langer Mann hatte sie die hügelige Wasserscheide zwischen den Mondmuschel- und den Antilopenabflüssen entlang zum kleinen Haus von Grüßt die Sonne geleitet.
Der Hügel lag noch im Gebiet der Familie des jungen Mannes. Das felsige Hochtal wurde neben mehreren Quellen auch von einem wilden Bach bewässert. Grüßt die Sonne wohnte am Fuß des Hügels, den sie in der Nacht bestiegen hatten.
»Er lebt hier wie ein Einsiedler. Er ist ein einfacher Mann«, hatte Langer Mann ihr gesagt, als sie auf das kleine Haus zugingen. »Schon als er ein Junge war, hat ihn die Macht berührt. Er spielte nie so wie die anderen Kinder. Er war lieber allein, verbrachte seine Zeit im Wald oder lauschte den Vögeln.«
Das Haus sah verfallen aus. Aber Flüchtlinge konnten nicht erwarten, in sauberen, warmen Clanhäusern unterzukommen, dachte Sternmuschel.
»Was macht er hier oben?« hatte Sternmuschel gefragt.
Langer Mann hatte mit den Achseln gezuckt. »Etwas Landwirtschaft … jedes Jahr bearbeitet er ein neues Feld, vergißt dann aber, sich darum zu kümmern. Er hat noch niemals etwas zu Ende gebracht.
Meistens lauscht er den Geistern und redet mit dem Geheimnisvollen. Er spricht zu den Tieren, ruft die Wolken an und beobachtet die Sterne. Er ist schon jung in die Sternengesellschaft aufgenommen worden, hat aber das Interesse daran verloren. Zurück zu deiner Frage: Er ist ein Einsiedler; seine Familie versorgt ihn mit Essen. Er wirkt als Heiler, und manchmal träumt er für andere, sagt ihnen, wo sie Sachen wiederfinden, die sie verlorene haben.«
Sternmuschel war auf die erste Begegnung mit Grüßt die Sonne nicht gefaßt gewesen, als sie sich an der Schwelle seines armseligen Häuschens in die Augen sahen; in diesen sanften braunen Augen sah sie seine Seele, sah Wärme, Zärtlichkeit und Anteilnahme. Dann hatte er ihr zugelächelt.
»Willkommen in meinem Haus«, sagte er nur. »Der Gesang der Vögel hat euch schon angekündigt.«
Sogar Silberwasser war von ihm eingenommen und lächelte verlegen, als er ihr über den Kopf strich.
Inzwischen war es wärmer geworden, der Schnee begann zu schmelzen, und ein besänftigender Frieden war in Sternmuschels Herz eingezogen.
Jetzt stieg sie auf den kleinen Erdhügel auf dem Gipfel, hob die Arme und sang den traditionellen Gruß an die Sonne. Neben ihr kniete Langer Mann und betete um Gesundheit, Glück und Regen.
Grüßt die Sonne sang mit weit ausgebreiteten Armen in der Sprache der Langschädel, sein schönes Gesicht von Wonne erfüllt.
In diesem Moment machte Sternmuschels Herz einen Sprung. Das Gesicht des jungen Einsiedlers glänzte golden in den Strahlen der Sonne. Sie hatte noch nie einen so schönen Menschen gesehen.
Sie betete. Ich bitte dich, Sonne, hilf mir, diese schreckliche Maske loszuwerden. Schenke mir frieden, laß mich die Schönheit finden, und gib mir endlich Ruhe.
Sie untersagte es sich, für diesen schönen jungen Mann zu beten, der sie so fesselte.
Als wären sie eins, ritzten sie mit dem heiligen Feuerstein die Haut an ihren Schultern. Sternmuschels Blut sammelte sich in einer roten Perle und rann dann ihre weiche Haut hinunter.
Sie zog Silberwassers Hemd über die weißhäutige Schulter. »Hast du dir gewünscht, was du sehnlichst möchtest, Liebes?«
»Ja, Mama. Ich habe um das gebetet, was ich mir am meisten wünsche.« Silberwassers Augen schienen sich zu vergrößern, und Sternmuschel war wie verzaubert von ihrem Blick.
»Mama«, sagte Silberwasser. »Darf ich selbst schneiden? Ich möchte mein Blut alleine opfern.«
Sternmuschel zögerte,
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