Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
nickte dann aber. »Ja, sicher. Aber schneide nicht zu tief. Hast du denn keine Angst?«
»Nein, Mama. Die heiligsten Opfer müssen wir selbst bringen.« Und sie nahm die scharfe Schneide und schnitt sich die Haut zuerst auf der einen, dann auf der anderen Schulter ein.
»Das hast du gut gemacht, Liebling«, lobte Sternmuschel sie. Grüßt die Sonne sang immer noch.
Silberwasser zupfte am Hemd ihrer Mutter. »Du hast Grüßt die Sonne gern, nicht wahr, Mama?«
Sternmuschel warf einen schnellen Blick auf den jungen Mann. »Ich kenne ihn doch kaum. Wir haben ihn erst vor ein paar Tagen getroffen. Dein Vater…«
Sie seufzte und flüsterte: »Ich habe keine Zeit, um jemanden gern zuhaben.«
Silberwasser beobachtete sie. »Mama, vielleicht können wir hierbleiben? Vielleicht hat dir die Macht Grüßt die Sonne zugedacht. Er ist freundlich, und mir gefällt er auch, Mama.«
»Ja, Liebes, er ist sehr freundlich.«
Schade, daß dein Vater nicht so war wie er.
Als sie das dachte, ertappte sie sich dabei, wie sie Grüßt die Sonne wieder beobachtete. Er stand gerade und hoch aufgerichtet da. Seine Schultern waren breit und kräftig, sein langes schwarzes Haar glänzte im Morgenlicht.
Was hatte er Besonderes an sich? Woher kam diese unerklärliche Anziehungskraft ?
»Ich glaube, das wird ein guter Frühling«, sagte Grüßt die Sonne, warf seinen Kopf zurück und atmete die frische Morgenluft tief ein. Er sah zufrieden aus. »An einem solchen Tag kann man sich wirklich des Lebens freuen.«
»Genau so ist es«, stimmte ihm Langer Mann zu und tupfte das Blut ab, das aus den Schnitten auf seinen Schultern quoll. Er schlüpfte in seinen abgetragenen Mantel und nahm den Sack mit der Maske auf.
Grüßt die Sonne zog sich sein Hemd an und schritt um Langer Mann herum. Es klang so, als spräche er nur zu Sternmuschel: »Zur Feier dieses Tages habe ich etwas Besonderes, einen Truthahn.
Gestern nacht machte ich die Feuermulde sauber, wickelte den Puter zuerst in Lehm, dann in festes Gewebe und vergrub ihn in der heißen Glut. Jetzt müßte er fertig sein.«
»Das klingt ja wunderbar.«
Beim Gehen nahm sie seinen Körpergeruch in sich auf. Langer Mann und Silberwasser waren schon vorausgegangen.
»Ich bin froh, daß du hergekommen bist«, sagte Grüßt die Sonne zu Sternmuschel. »Du hast etwas Glück in mein kleines Tal gebracht.«
»Ich dachte, du wärst lieber allein.«
»Das stimmt.« Er schien verwirrt. »Aber du bist anders als die meisten Menschen, die Macht hat dich berührt… da ist noch etwas. Ich fühle ein großes Leid, das du ausstrahlst.«
»Mein Mann ist tot. Seit zwei Monden erst.«
Er betrachtete sie forschend. »Meine Seele trauert mit deiner. Hast du ihn sehr geliebt?«
»Anfangs ja… früher einmal. Er besaß Macht. Oder vielleicht war es nur…«
Die Maske.
Ein Prickeln lief ihr den Rücken hinunter. »Nein, wenn ich darüber nachdenke - vielleicht habe ich ihn gar nicht geliebt.«
»Das tut mir leid. Nie geliebt zu haben, ist schrecklich.«
Vorsichtig umging sie eine steile Stelle und warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu. »Und was ist mit dir, Grüßt die Sonne? Hast du jemals geliebt?«
»Ich liebe dauernd, jeden Tag.« Er lächelte schüchtern. »Ich glaube, ich liebe dich. Ich glaube, ich habe dich vom ersten Moment an geliebt, als ich dir in die Augen sah.«
»Aber du weißt doch gar nichts von mir.«
»Ich weiß, daß du schön bist, daß man dich verletzt hat, daß du erschöpft und traurig bist. Ich glaube, nur ein Mensch mit einer reinen Seele kann richtig traurig sein.«
»Verstehe ich dich? Du glaubst, wer leidet, ist schön?«
»Ja, das glaube ich. Und er weiß mehr vom Geheimnisvollen.«
»Er weiß mehr…« Sie stolperte. Sofort fing er sie mit warmen, schützenden Armen auf. Seine starken Hände gaben ihr Sicherheit. Sie erfaßte jede Einzelheit seines vollkommen geformten Gesichts, und sie sah, wie er ihren Duft gierig einsog.
Als ihre Gesichter so nahe beieinander waren, durchfuhr sie eine Erregung wie ein Blitzschlag.
Sich beherrschend, trat sie zurück, dankte ihm lächelnd und achtete fortan auf ihre Schritte, damit er keine Gelegenheit fände, ihr Inneres noch einmal derart aufzuwühlen.
Was geschieht mit dir, Sternmuschel? Er ist doch nur ein hübscher junger Mann. Was ist los mit dir, daß du so schnell bereit bist wie eine läufige Hündin?
Sie versuchte, sich zu beruhigen und wußte, daß diese plötzliche Nähe auch ihn nicht unberührt gelassen
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