Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
saßen. Die Krüge waren mit Stoff verschlossen und mit Hanffasern zugebunden. Sie enthielten die Asche der Vorfahren, deren Geister durch Gebete, rhythmisches Rasseln und die Gesänge der Ältesten herbeigerufen worden waren. Nun schwebten sie im Tempel, beobachteten den jungen Mann und hörten seine verzweifelten Gebete.
»Der Tempel ist das Herz des Volkes«, sagte Grüne Spinne. »Hier werden die heiligen Gegenstände aufbewahrt. Hier ist der heiligste Ort für alle Clans.«
Und sehr heilig für dich, Grüne Spinne. Er ist der Mittelpunkt deines Lebens geworden. Die Clans haben dich genährt, sich um dich gekümmert und dir alles gegeben, was du benötigt hast, um ein Träumer zu werden. Willst du mehr als das, Grüne Spinne? Schau diese alten Männer an und fühle, wie du sie liebst. ]a, so ist es gut. Genieße die Wärme, die in deiner Seele aufsteigt.
Grüne Spinne sah hinab; er liebte die alten Männer und dachte an das, was sie ihn gelehrt hatten. Sie waren treu geblieben - sie vertrauten ihm. Stoisch wachten sie über seinen gefühllosen Körper, und er liebte sie von ganzem Herzen.
Liebe ist machtvoll, Grüne Spinne. Bist du stark genug, sie aufzugeben?
»Aufzugeben? Warum?«
Liebe lenkt uns von der Wahrheit ab, von der Realität der Macht. Liebe ist trügerisch.
Das Feuer war niedergebrannt. Der Alte Mann der Sonne stand langsam auf, nahm leise singend ein neues Scheit und legte es ins Feuer. Dann zeichnete er ein Netzmuster in die Luft. Das Volk glaubte, Spinne hätte den Sonnenclan gegründet und gleich nach der Schöpfung den Menschen das Feuer gebracht.
Das Scheit aus Zedernholz knisterte und sprühte Funken, als es Feuer fing. Die Geister schwebten um den reglosen Körper von Grüne Spinne und flüsterten miteinander.
Gesang stieg jenseits der Tempelmauern auf. Der Tag der Sonnenwende dämmerte herauf. Die Blutroten traten aus ihren Häusern in den eisigen Wintermorgen hinaus. Singend begrüßten sie das Licht und hoben die Hände mit erwartungsvollen Gesichtern gen Osten.
Die alten Männer im Tempel wurden unruhig. Die Zeremonie, für die jeder der Ältesten Verantwortung trug, begann. Wie lange sollte ihre Wache noch dauern? Vier Tage waren vergangen, seit Grüne Spinne sich auf der Suche nach dem Heiligen Traum in den Staub geworfen hatte.
Der Älteste der Blutroten seufzte - dachte kurz nach und sagte: »Wir müssen bleiben. Wir haben es versprochen.«
Mit kaum merklichem Nicken stimmten die andern zu. Sie würden bleiben.
Das sind ehrenwerte Freunde, erklärte Bunte Krähe, und das trifft sich gut; so kann deine Entschlossenheit besser geprüft werden. Bereitest du dich vor, Grüne Spinne?
»Mich vorbereiten?« Was meinte Bunte Krähe damit? Hatte er das nicht schon getan?
O Grüne Spinne, du hast noch nicht einmal den ersten Schritt getan. Ich habe dir erlaubt zu fliegen, in die Schwingen meines Geistes zu schlüpfen. Wenn du stark genug bist, werde ich dir erlauben, an meiner Stelle zu handeln. Du hast nach Macht verlangt. Ich werde dir gewähren, was du suchst, wenn du mir gewährst, was ich will. Der Weg ist lang, beschwerlich und schmerzlich. Was bist du bereit, der Macht zu opfern?
»Alles. So, wie mein Volk jetzt Opfer bringt.«
Wenn die Ältesten des Clans an so einem wichtigen Tag ihre Aufgaben anderen übertragen würden, wäre das nicht eine Lektion für Grüne Spinne? Die Clans kannten die Rituale, und andere Männer würden die Opfer bringen und die Zeremonien leiten.
»Ich werde tun, was du willst, Bunte Krähe. Sag mir, was du begehrst. Du kannst alles haben, was ich besitze.«
Noch nicht, rief ihm die Stimme von Bunte Krähe aus der Ferne zu. Das ist erst der Anfang. Du hast noch einen langen Weg vor dir.
Die Seele von Grüne Spinne wandte sich jetzt den Menschen zu, die vor Erwartung erschauerten und sich in leuchtend farbige Decken hüllten.
Aus den Hütten rings um die Hügel des Clans tauchten in der kristallenen Kälte des purpurfarbenen Morgens Tänzer auf. Sie trugen ihre feinsten Kleider und schauten zum hohen Hügel hinauf, wo die Ältesten hätten stehen sollen. Da sie dort niemanden sahen, wandten sich ihre Blicke dem Tempel zu, der am Fuß des Hügels im grauen Licht aufragte. Geflüsterte Fragen gingen von einem zum andern; die Leute hielten ihre Decken fest und erklommen die Hügel, um die Zeremonien zur Geburt des neuen Jahres einzuleiten. Viele Gesichter wendeten sich zum bleiern glänzenden Himmel.
Dein Volk scheint beunruhigt zu sein,
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