Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
und Tag.
Tief unten wartete die Erde, grau und trübe, im harten Griff des Winters. Eisverkrusteter Schnee lag an den Baumstämmen und umrahmte die gelb-braun gefleckte Laubmatte des Eichen- und Hickorywalds.
Seine ungewöhnlich scharfen Augen erspähten den gewundenen Lauf des Vatergewässers und folgten seinen Windungen bis zur Mündung der Hirschflusses, wandten sich dann nach Osten, bis zur Wasserscheide. Kleine schilfgedeckte Hütten drängten sich auf Lichtungen zusammen. Bald würde die Sonne der Wintersonnenwende aufgehen.
Am Nordufer des Hirschflusses erhoben sich massige Erdhügel. In der Mitte überragten einige die Bäume und boten einen freien Ausblick auf ferne Horizonte. Alle waren mit gelbem Sand bedeckt, der im schwachen Licht der Morgendämmerung glitzerte. Weitere Erdhügel waren auf den Linien der Sonnenwende und der Tagundnachtgleiche gebaut worden. Sie waren rechteckig und zur Vorbereitung der Opferzeremonien oben mit weißem Sand bestreut. Andere Hügel wiederum, kleiner und abgerundet, bargen die Gebeine und die Asche der Toten. Diese Hügel erhoben sich auf den Bahnen der Sternzeichen.
Kennst du diesen Ort? fragte eine Stimme aus grau verhangener Ferne.
»Die Stadt der Toten.«
Die Umrisse der eng beieinander stehenden Beinhäuser waren zwischen den Hügeln erkennbar.
An diesem besonderen Tag warteten die Geister der Toten schon begierig und ungeduldig auf das Fest zu ihren Ehren.
Ich schenke dir etwas Besonderes, sagte die Stimme. Ich lasse dich durch meine Augen sehen - durch die Augen von Bunte Krähe.
Das Gefühl des Fliegens veränderte sich, die Macht wuchs in ihm, und er gewann die Erinnerung an längst vergangene Zeiten und ferne, ferne Orte.
Grüne Spinne kreiste und hüllte sich dabei in Wolken, wie in einen dichten Kokon. In einem gefiederten Fuß hielt er die Gewalt des Blitzes, bereit, ihn zu schleudern. In seiner lebhaften Vision konnte er die Szene unter sich genau betrachten.
»Bunte Krähe?«
Ich habe gehört, du sehnst dich nach einer Vision?
»Aber, ich … es ist so…«
Schau hinab, und beobachte, was dort vorgeht! Heute ist einer der beiden heiligsten Tage des Jahres.
Trotz des plötzlichen Wintereinbruchs und ungeachtet der Kälte waren die Leute von weit hergekommen. Manche hatten sich erst nach Märschen von sechs Tagen auf dem Hügelzentrum der Stadt der Toten eingefunden. Viele trugen Töpfe mit Nahrung, Opfergaben oder Asche derer, die im vergangenen Jahr gestorben waren. Einige kamen mit Kanus über eisige Flüsse und Moorseen gepaddelt.
Hier trafen sich die Menschen viermal im Jahr, an den Tagen der Sonnenwende und der Tagundnachtgleiche. Manche kamen, um ihre Toten zu begraben, andere, um ihre Vorväter zu ehren, um ihnen Nahrungsmittel oder Geschenke zu bringen. Sie wollten den Toten zeigen, daß sie ihrer gedachten und sie in Ehren hielten. Auch erbaten sie die Hilfe ihrer Toten für das kommende Jahr.
Wieder andere kamen wegen der Festlichkeiten und der Tänze, denn zu dieser Wintersonnenwende würden die Schamanen das neue Jahr begrüßen und Vater Sonne bitten, die Reise nach Norden anzutreten. Kultische Feiern würden stattfinden, um ihre Geister zu nähren und zu pflegen.
Die feierlich Angetretenen tanzten und führten die rituellen Handlungen durch, die allen ein gutes neues Jahr sicherten. Die Jungen, die zur Initiation bereit waren, wurden geprüft und danach in die Geheimnisse ihrer Gesellschaft eingeweiht. Die Baulichkeiten, in denen die Veranstaltungen stattfanden, wurden begutachtet und Pläne für ihren Unterhalt vorgelegt. Sodann wurde der geheiligte Grund der Stadt der Toten in Ordnung gebracht.
Während der viertägigen Zeremonie erledigten die Clans die meisten ihrer Geschäfte. Die weiblichen Anführer eines Clans entschieden, was im Frühjahr angepflanzt werden sollte; stundenlang debattierte man über die Behandlung der Böden. Man besprach auch Familienangelegenheiten; da wurden Streitfälle geschlichtet, Heiraten vermittelt und in einigen Fällen auch Scheidungen genehmigt.
»Gibt mir die Vision auch Gewalt über Stürme? Kann ich die Natur und die Menschen unter meine Kontrolle bringen?«
Nein, Grüne Spinne. Du suchst eine Ordnung und wirst nur Wahrheit finden. Siehst du die Menschen?
Sieh sie dir an. Du wirst sie nie mehr sehen wie jetzt.
Als Grüne Spinne herabschaute, schliefen die meisten. Er wandte sich jetzt zu dem langen, schilfgedeckten Tempel südlich vom höchsten Hügel der zentralen Gruppe. Dort waren
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