Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
griff zur Tasche und schloß seine Finger um sie. »Leb wohl, Großvater. Beim Fest der Toten werde ich dein Loblied singen und deinen Körper zurückbringen, damit er angemessen beerdigt wird.«
»Nein«, kreischte die schwächliche Stimme. »Laß mich hier! Ich will nicht zusehen!«
»Zusehen?«
»Mein Geist wird dich peinigen, dich jagen bis…« Als Glimmervogel die heilige Tasche aufnahm, wurde der Körper des Großvaters plötzlich steif. Ein krächzender Laut kam aus der alten Kehle. Dann fiel der Körper schlaff zusammen.
»Ja«, flüsterte Glimmervogel, »ich werde dich zurückbringen, Großvater, dich im Leichenhaus aufbahren, deinen Körper ölen und räuchern lassen. Ich werde dir ein Grab bauen - ein herrliches Grab. Und bei jedem Totenfest wirst du meine Größe wachsen sehen, und du wirst stolz auf mich sein.«
Das Gesicht des alten Mannes zeigte im Tod panischen Schrecken. Glimmervogel starrte in die toten Augen, um diesen Ausdruck im Gedächtnis zu behalten. Dann richtete er sich auf und betrachtete die Tasche, in der die Maske lag.
Vorsichtig öffnete er die Tasche und setzte sich die prachtvolle Maske ehrfürchtig auf, um durch die Augenlöcher zu sehen. Die kühle Innenfläche der Maske schien sich seinem Gesicht anzupassen. Er spürte, wie die Macht in ihm hochstieg, ihn umhüllte und stärker wurde, während er durch die grüne Wand der Zedern blickte.
Er blinzelte. Was geschah? Farben, alle Farben flössen aus der Welt, bluteten aus, so wie das Leben eines Menschen aus einer tödlichen Wunde fließt. Die goldenen Strahlen der Sonne verblichen zu einem schmutzigen Weiß und saugten das Grün und das Blau auf, bis nichts mehr übrigblieb als fleckige Tönungen von Gewitterwolken, und dennoch …
Ja, du spürst es! Die Macht, die mich durchdringt. Die mich verändert, mich groß macht!
Durch die Augenschlitze der Maske schaute er zurück zu seinem Großvater und sah ein geschwärztes, zusammengeschrumpftes Ding - genau wie Krähenrufer, unwillkürlich kam ihm der Name in den Sinn, wie Krähenrufers Seele, als Wolfträumer sie wegtanzte.
Glimmervogel nahm die Maske ab, voller Ehrfurcht vor der Stimme, die er in seinem Inneren gehört hatte. Sein Großvater lag neben der ausgetrockneten Leiche, aber es war nicht mehr der Großvater, den er immer bewundert und gefürchtet hatte, sondern nur noch eine Hülle - wie die abgestreifte Haut einer Larve.
Es würde schwierig sein, die Leiche zurückzuschleppen, aber der Eindruck, den er damit auf sein Volk machte, würde die Mühe wert sein. Jetzt mußte er wie ein Führer denken. Jede seiner Handlungen mußte von größtmöglicher Wirkung sein.
Ein schwaches Wispern der Stimme seines Großvaters schien in der Felsenhöhle widerzuhallen.
»Nein! Nein, tu es nicht! Laß mich nicht deiner Vernichtung zusehen!«
Glimmervogel holte tief Atem und steckte die Maske wieder in die Tasche.
Als er den Großvater hochheben wollte, war es ihm, als hörte er eine alte Frau singen: Ihr Vater kam von weit hinterm Meer, Kinder der Sonne, dort kamen sie her. Einer muß sterben, und einer muß leben. Sieh, wie die Seelen zum Himmel streben.
1. KAPITEL
Der nackte Jüngling lag bäuchlings auf einer Schilfmatte im Tempel. Sein Name war Grüne Spinne, aber jetzt glich er mehr einem gerupften Vogel, die Arme wie Flügel ausgebreitet, die Beine eng beieinander. Unbeweglich wie ein Toter lag er da.
Doch bei genauerer Betrachtung sah man, daß sich der knochige Rücken leicht hob und senkte. Auf der glatten, kupferfarbenen Haut funkelten Schweißtropfen. Zwischen beiden Schulterblättern zogen sich drei tiefe Schnitte, aus denen das Blut, ein Opfer an die Geisterwelt, in einem Rinnsal herausgeflossen war. Eine Nadel, aus dem Mittelfußknochen eines Hirschs geschnitzt und an beiden Enden zugespitzt, hielt den dichten Knoten des schwarzen Haars im Nacken fest. Der Mann war kaum älter als fünfundzwanzig Winter.
Trotz seiner Bauchlage konnte man teilweise sein Gesicht sehen. Breite Backenknochen betonten die hohe Stirn; die Nase war schmal und gebogen wie ein Raubvogelschnabel. Dünne Muschelschalen, fein in Spinnenform geschnitzt und leuchtend grün gefärbt, hingen an seinen Ohrläppchen.
Vier Tage hatte er so gelegen, ohne Nahrung, ohne Schlaf und ohne Wasser, schwitzend, betend und in der Tiefe seiner Seele suchend. Und allmählich hatte eine Vision Gestalt in ihm angenommen, eine Vision vom Fliegen, vom Segeln, vom Treiben auf Wolken und im Wind zwischen Nacht
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