Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
noch nie interessiert.«
Sterngucker fragte: »Was machst du hier, Zauberer?«
»Sicher darf ich eine Nacht bei einem alten Freund verbringen. Laß uns bei dir ausruhen und erzähle uns die Neuigkeiten. Morgen früh ziehen wir weiter.« Langer Mann deutete zum Dach, auf das der Regen trommelte. »Heute nacht kannst du den Himmel nicht beobachten.«
»Ich kann die Sterne von hier aus ganz gut sehen«, knurrte Sterngucker und zeigte schräg nach oben.
»Das Sternbild des Fuchses steht dort.« Sein Arm fuhr weiter. »Die Heldenzwillinge gehen im Osten auf, die sieben auffallendsten Sterne sind gerade über dem Horizont sichtbar. Nach Westen hin sinkt am frühen Abend die Spinne… sie geht dann nicht mehr auf bis zur Tagundnachtgleiche im Herbst.
Dann kommt die Spinne aus dem Osten! Der Pflanzstern wartet unter dem östlichen Horizont. Die Heldenzwillinge werden aufgehen und dem Pflanzstern Platz machen. Und alle jagen die Spinne fort.«
»Ist es nicht seltsam?« Langer Mann hatte sich bis auf den Lendenschurz entkleidet und breitete seine Sachen zum Trocknen aus. »Die Spinne ist der Vorbote des Winters. Es war die Spinne, die den Menschen das Feuer brachte.«
»Aber die Spinne ist auch der Schwindler!« Sterngucker wandte den Kopf nach Westen, wo das Sternbild stand. »Uns alle schwindelt das Leben an, alter Freund. Alles ist flüchtig, nichts bleibt. Von allem, worüber ich je nachgedacht habe, ist für mich am unverständlichsten, warum der Geheimnisvolle die Welt und die Menschen so zerbrechlich geschaffen hat.«
»Zerbrechlich?« fragte Langer Mann und wärmte seine Hände am Feuer.
»Sternmuschel, zieh die nassen Sachen aus. Wärm dich auf. Du mußt deine Schlafdecken und die von Silberwasser trocknen.«
»Zerbrechlich«, wiederholte Sterngucker. Dann zeigte er auf seinen Kopf. »Eine Generation nach der anderen hat das Wissen zusammengetragen, das ich hier bewahre. Und wenn ich nicht mehr bin, Zauberer, wird es mit mir verschwinden. Keiner von den jungen Männern kommt her, um zu lernen.
Sie gehen nach Sternhimmelstadt, zur Großen Schlange oder zu den Orten der Plattformpfeifen am Mondmuschelfluß. Sie treten in die Sternengesellschaften ein und lernen diese neune Sachen, nicht mehr das alte Wissen.«
Als Sternmuschel sich auszog und ihre nassen Kleider vor dem Feuer ausbreitete, sagte der Zauberer:
»Vieles davon ist geblieben. Es sind dieselben Sternenbahnen, derselbe Wechsel der Jahreszeiten. Orte wie Sternhimmelstadt sind einfach größer. Mehr Menschen können dort leben.«
»Aber die alten Bräuche gehen verloren«, meinte Sterngucker. Sogar hier, alter Freund. Mein Sohn spricht nicht einmal mehr den Segen in der alten Sprache.«
»Heute abend wurde er in der rituellen Sprache gesprochen«, erwiderte Langer Mann.
»Das höre ich mit Freude. Aber wenn ich nicht mehr bin, du nicht mehr und eine Handvoll anderer auch gestorben sein werden? Wer wird dann den Segen sprechen? Die Welt verändert sich, und das macht mir angst. Der Geist der Macht verwandelt sich, treibt Spiele. Die Bräuche unserer Väter verblassen wie gelber Stoff in der Sonne.« »Mir ist aufgefallen, daß der Pfad nicht so ausgetreten ist wie früher.« Langer Mann hielt inne. »Du zeigst doch den Menschen immer noch die Sterne?«
»Viel seltener als früher. Es kommen nur noch wenige. Die meisten von ihnen wollen nur Antworten auf dumme Fragen. Wen sie heiraten werden, ob es ein guter Handel wird. Ob sie sich mit einer Kupferkette oder mit einer Glimmerkette begraben lassen sollen. Wird mein Mann hinter mein Liebesverhältnis kommen?« Der alte Mann schaute unverwandt zur Decke hoch. »Wäre kein Unwetter, könntet ihr sehen, wie die Fliegende Fledermaus ihren Aufstieg beginnt.«
Sternmuschel schaute hin und überlegte, welches Sternbild die Fliegende Fledermaus sein könnte.
»Wäre das bei den Plattformpfeifen der Flußotter oder der Schwarze Bär?«
»Siehst du?« Sterngucker war empört. »Wer würde die Fliegende Fledermaus nicht kennen? Niemand besitzt die Weisheit der Ältesten!« Seine Stimme brach. »Sie wird verloren sein. Was hatte der Geheimnisvolle vor, als er diese Welt schuf? Die Wahrheit sollte sich nicht mit den Generationen wandeln. Wahrheit ist Wahrheit.« Langer Mann fragte: »Geht es dir gut?«
»Natürlich, du Narr! Sehe ich nicht so aus? Ich bin nur angeekelt, sonst nichts. Aufgebracht wegen der Welt und der Ungerechtigkeiten. Jetzt höre ich, daß du ein Hexer bist.«
»Ich bin immer Zauberer
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