Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
anderes, etwas Dunkles, Verborgenes und Schreckenerregendes.
Langer Mann hatte eine wundervolle Decke um sich geschlagen, mit eingewebten Fuchspelz- und Kaninchenfellstreifen und Federn. An seinen dünnen Armen trug er viele Kupferarmbänder. Seine kleinen Hände waren vom Alter verkrümmt, und die langen Nägel wirkten wie Krallen.
»Ich teile eure Trauer.« Diese einfache Beileidsbekundung war beredter als jede Ansprache.
Höhlengräber nickte. »Wir danken dir, weiser Mann. Es war ein schlimmer Mond für uns, seit ihre Seele den Körper verlassen hat. Die letzten Feuer brennen.«
Der Zauberer verschränkte die Finger über dem Bauch. »Wir möchten euch eine Opfergabe mitgeben.
Bitte, lege dieses Zeugnis unserer Achtung zu ihrer Asche, so daß ihr Geist von unserer tiefen Zuneigung weiß. Die Zeit, in der sie Gesprungene Schale pflegte, steht uns noch klar vor Augen.« Als eine Böe die Wand erzittern ließ, blickte er zur Seite. Er erbleichte leicht und flüsterte: »Ja - das vergessen wir nicht.«
Sternmuschel erinnerte sich. Gesprungene Schale war einer der Ältesten des Langschädelclans gewesen, ein geachteter Händler, der unter einer Gesichtsschwellung litt. Ihre Mutter hatte ihn gepflegt, und damals hatte sie den Zauberer kennengelernt. Niemand sonst war gewillt gewesen, dem Kranken zu helfen; alle fürchteten, daß das Schreckliche, was immer es war, das im Kopf von Gesprungene Schale wuchs, auch in ihren Köpfen wachsen könnte.
Unaufgefordert trat der junge Mann mit einem gravierten Steintäfelchen vor. Die Langschädel benutzten diese Täfelchen, um darauf bei heiligen Anlässen rituelle Körperfarben zu mischen.
»Ihr Geist ist geehrt«, sagte Höhlengräber ehrerbietig, als er das Täfelchen annahm.
Sternmuschel betrachtete die bearbeitete Schieferplatte. In dem ausgeklügelten Muster der Gravur zeigte sich das künstlerische Geschick. Sie konnte die Bilder einer Frau, eines Mannes und eines Wolfs erkennen, die miteinander verbunden waren. Auf der Rückseite der Platte waren seltsame Zeichen eingraviert. Flecken hatten den Schiefer durchdrungen, einige wie schwarzes, altes Blut, andere wie silberweiße Verkrustungen getrockneten Spermas.
Diese Tafel zog sie unwiderstehlich an, als saugte sie an ihrer Seele.
Der Zauberer erklärte die Bilder: »Es ist die Geschichte meines Clans, des Wolfvolkes. Die Geschichte der ersten Tage nach der Erschaffung der Welt. Das ist Alte Frau, zusammen mit Erster Mann und seinem Geisthelfer.« Er lächelte. »Du weißt wahrscheinlich, Sternmuschel, daß das Geschlecht deiner Mutter vor Urzeiten von den Langschädeln abstammt. Ihre Vorfahren heirateten in den Clan von Großer Stern, und deshalb bist du entfernt mit mir verwandt.«
»Ich erinnere mich«, antwortete Sternmuschel und riß sich vom Anblick des Täfelchens los. Sie seufzte, als ihr Vater es in seine Gürteltasche steckte. Spürte er denn nicht die Anziehungskraft des Steins ?
»Bitte setzt euch. Man wird euch Getränke reichen.«
Langer Mann setzte sich wieder und verschränkte seine Beine unter sich. Sternmuschel und ihr Vater setzten sich auf die andere Seite des Feuers dem Ältesten gegenüber, wie es die Sitte verlangte.
Wieder erschien der junge Mann, diesmal mit einer großen Muschelschale voll dampfendem Yaupon.
Abwechselnd tranken sie alle aus der glänzenden rosafarbenen Schale. Der bittere schwarze Stechpalmentee durchströmte wärmend Sternmuschels unterkühlten Körper. Zum ersten Mal, seit sie vom Tod ihrer Mutter gehört hatte, fühlte sie wieder eine wohlige Wärme. Das war die Wirkung von Yau-pon, es kräftigte den Körper und schärfte den Geist.
»Alle eure Vorfahren seien gelobt«, begann Langer Mann. »Mögen eure Nachkommen eure Geister in Ehren halten. Möge Erster Mann seine segnende Hand über euch breiten. Eure Äcker sollen fruchtbar sein, und Hunger halte sich fern von eurer Tür.«
»Und von deiner«, fügte Höhlengräber hinzu.
Der Zauberer trank abermals aus der Muschelschale und gab sie weiter. Das Begrüßungsritual endete erst, als die Schale leer war. Dann nahm Langer Mann eine röhrenförmige Steinpfeife aus seiner Gürteltasche. Sie hatte die Form eines Zwergs mit langem Körper und einer verzierten Schärpe um die Hüften. Das Haar war in der Mitte gescheitelt und in zwei Knoten gebunden. Hohle Ohrspulen schmückten die Ohren.
Langer Mann füllte bedächtig die Pfeife. Kein Tabakblättchen ging verloren, als er sie mit einem stumpfen Knochenstab
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