Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
Magen. Ich öffne die Augen, und die blendende Dunkelheit verschwindet.
Ich… ich kann nicht… mein Mund öffnet sich, und ich schreie. Je lauter ich schreie, um so grauenerregender wird die Stille, bis ich überhaupt nichts mehr höre. Und ich fühle… ich fühle, wie ich mich auflöse.
Es ist, als wäre mein Atem meine Seele, die in meinen Schrei hinein flieht… zum Schrei wird.
Die alte Frau Gelbes Schilfrohr saß zusammengekauert hinter dem geschnitzten Fuchskopf im Bug des großen Kanus, das sich bei dem bewegten Wellengang hob und senkte. Der bleierne Morgenhimmel spiegelte sich mit mattem Glanz auf dem Fluß. Schon als kleines Mädchen, sechzig Jahre waren es her, hatte sie mit Vergnügen vorn im Boot gesessen und entzückt zugesehen, wie es das Wasser durchschnitt.
Der Sturm hatte seine ganze Wildheit am Morgen entfaltet und Schleier kalten Regens herabgesenkt.
Das schwere Kanu brachte Gelbes Schilfrohr und ihre Tochter zum Haus des Weißmuschelclans. Die alte Frau schaute zurück und sah Otters Paddel, das sie zum Ostufer trieb, blitzend ins Wasser tauchen.
Sie hielt eine kleine Schilfmatte über sich, um sich vor dem eisigen Regen, der in dicken Silbertropfen vom Himmel fiel, etwas zu schützen.
Unter einem schweren Umhang trug sie ein dickes Winterkleid, dennoch war ihr die Kälte bis in die Knochen gekrochen, was für eine Frau in ihrem Alter äußerst schmerzhaft war.
»Mutter?« fragte Blaue Kanne und beugte sich unter ihrer Matte vor.
»Mir geht's gut. Mir ist nur kalt, und ich bin naß, aber das ist vorbei, wenn wir anlegen und ich zum Haus raufhumpeln kann. Weiß die Himmelsspinne, ich hoffe nur, daß dein nichtsnutziger Mann ein schönes Feuer brennen hat.«
Blaue Kanne kniff die Augen wegen des Sturms zusammen. »Nach so vielen Jahren weiß Viele Schildkröten, was du gern hast. Wahrscheinlich ist das Haus auf Hochsommerhitze erwärmt.«
Gelbes Schilfrohr lachte leise. Blaue Kanne hatte gerade viermal zehn und zwei Winter hinter sich. Sie hatte ein Mondgesicht mit einer breiten Nase, und wegen ihrer schweren Augenlider sah sie immer schläfrig aus. Doch das war Blaue Kanne keineswegs, auch war sie nicht langsam im Kopf. In der Verwaltung des Weißmuschelclans hatte sie viele Ämter inne.
Wasser schwappte gegen den Rumpf, als das Kanu durch den Fluß glitt, und Gelbes Schilfrohr lächelte über die weißen Schaumspritzer, die sich in den windgepeitschten grünlich-braunen Wellen auflösten.
»Mit deinem Ehemann hast du eine gute Wahl getroffen.« Gelbes Schilfrohr lehnte sich zur Seite, um sich mit ihrer Schilfmatte besser gegen den Regen zu schützen. Dabei konnte sie außerdem Otter deutlicher sehen. Das Wetter schien ihm gleichgültig zu sein. Otter war kein schlechter Name für den Jungen - er paßte zu ihm.
»Ich hoffe, Viertöter wird mit Rote Mokassins so glücklich wie Viele Schildkröten mit mir.« Blaue Kanne kauerte sich unter ihrer Matte zusammen, auf die unablässig der Regen tropfte. Der Wind fing sich in ihren Matten, als wolle er das Kanu mit aller Macht abdrängen.
Besorgt blickte Gelbes Schilfrohr zu Otter. Doch scharfsinnig wie immer korrigierte er den Kurs sogleich, paddelnd und grinsend, mit blitzenden Augen - die Herausforderung durch die Elemente machte ihm Spaß.
»Ja«, antwortete Gelbes Schilfrohr. »Dem geht es sicher gut. Rote Mokassins ist kein dummes Ding.
So wenig wie ihre Mutter oder ihre Großmutter. Das Mädchen war klug genug, sich für Viertöter zu entscheiden und nicht für seinen forschen Bruder.«
Gelbes Schilfrohr kniff die Augen zusammen, nicht so sehr wegen des Regens, sondern weil sie nachdachte. Was sollte diese Schaunummer gestern abend, Otter?
Sie biß sich auf die Lippen, wie immer, wenn sie etwas beschäftigte. Die Kupferplatte war eine Sensation gewesen. Die Leute hatten Mund und Augen aufgerissen, und Rote Mokassins schien wie vom Donner gerührt.
Viertöter hatte nur genickt und seinem Zwillingsbruder voller Liebe zugelächelt, als hätte ihm der Clan gerade den Freikauf gewährt.
Otter paddelte entschieden und sicher weiter. Das Wasser perlte über seinen Fuchspelz und rann ihm über das breite Gesicht. Er hatte ein starkes Kinn, ausgeprägte Backenknochen und die mächtige Nase seiner Familie. Sein Haar war straff zu einem Knoten gebunden. Unter seiner Kleidung ahnte Gelbes Schilfrohr die kraftvollen Muskeln.
Gelbes Schilfrohr sagte: »Rote Mokassins hat noch einen jüngeren Bruder… wie heißt er
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