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Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen

Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen

Titel: Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen O'Neal Gear , W. Michael Gear
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hörte, hatte er sie geschlagen. Dabei hatte er einen irren Ausdruck in den Augen - als ob er sich schuldig fühlte. Die Wunden auf ihrem Körper waren verheilt, aber die in ihrer Seele nicht. Hatte er ihre Mutter getötet? Warum? Wieso konnte er so etwas getan haben?
    Was war aus dem jungen Mann geworden, den sie einst geliebt hatte? Nur die Erinnerung an sein hübsches Gesicht war ihr geblieben. Wenn sie ihn jetzt anblickte, sah sie einen fremden Menschen; er war dünn geworden und knochig. Und wenn er ihr in die Augen schaute, sah sie die Anspannung in seinem glasigen Blick.
    Nur ihre erste Tochter, Silbernes Wasser, jetzt bald fünf Jahre alt, war am Leben geblieben. Die nächsten beiden Babys waren bei der Geburt gestorben; als wären ihre Seelen, angesichts des Schreckens, der in diesem Haus herrschte, gleich wieder geflohen.
    Ach, könnte ich doch auch fliehen!
    Wegen der Reise zu den Totenfeiern hatte Sternmuschel Silbernes Wasser bei ihrer Schwiegermutter gelassen. Dort würde das Mädchen sicher sein und für eine Weile auch fern von seinem Vater. Armes Mädchen Silbernes Wasser. Die schönen Tage einer sorglosen Kindheit waren verweht wie die Blätter eines Baumes im Winter. In ihrem Alter sollten ihre Augen fröhlich strahlen, doch statt dessen war ihr einst unschuldiges Gesicht von Angst erfüllt.
    Das letzte Licht des Tages verblaßte, als sie das Haus des Langschädelclans erreichten. Obwohl die Langschädel nicht mehr im Flughörnchental lebten, besaßen sie dort immer noch ein Clanhaus. Der alte Hügel, eine niedrige, kegelförmige Erdwölbung, erhob sich neben einer Lichtung. Daneben bildeten Pfosten, an denen Opfergaben hingen, einen Heiligen Kreis.
    Höhlengräber entbot den Geistern murmelnd einen Gruß und berührte voller Ehrfurcht seine Stirn.
    Sternmuschel folgte seinem Beispiel; sie spürte die uralte Kraft, die von diesem Ort ausging.
    »Seid gegrüßt!« rief Höhlengräber: »Höhlengräber und seine Tochter Sternmuschel sind gekommen, um Langer Mann zu sehen, den ehrwürdigen Ältesten des Volkes der Langschädel.«
    Ein junger Mann erschien in der Tür. »Seid gegrüßt, Höhlengräber und Sternmuschel. Ich soll euch ausrichten, daß Langer Mann euch willkommen heißt und daß er die Trauer über den Tod eurer liebenswürdigen und gütigen Frau und Mutter teilt. Bitte, tretet ein. Seid willkommen.«
    Sternmuschel zögerte, als der junge Mann die Hängetür aufhielt. Eiszapfen hingen wie silberne Lanzen am Strohdach des Clanhauses. Es war kälter geworden - oder bildete sie sich das nur ein?
    Sie duckte sich und trat hinter ihrem Vater ein. Nach der beißenden Kälte draußen fühlte sie nun die angenehme Wärme, die ihre Nase und ihre Wangen zum Prickeln brachte. Es roch nach Minze und Rosenblüten und intensiv nach einem wohltuenden Räucherwerk, das sie nicht kannte. Was Sternmuschel für ferne Trommelwirbel gehalten hatte, war ihr eigener Herzschlag.
    Sie stand in einem großen, hohen Raum, in dessen Mitte ein kleines Feuer knisterte, das einen rosigen Schein auf die Wände warf, die mit Matten aus blauen Binsen bedeckt waren; dahinter hatte man Moos zur Wärmedämmung hineingestopft.
    Verzierte Töpferwaren standen aufgereiht an den Wänden, hölzerne Rückenstützen um das Feuer. Ein Lager aus Hirschfellen und Decken kennzeichnete das Schlafquartier in einer Ecke. Ein Bärenschädel schmückte die Südwand; Medizinbündel hingen von den verrußten Dachbalken herunter.
    Langer Mann, der gefürchtete Schamane der Langschädel, saß dem Feuer gegenüber. Er stellte sich auf seine kurzen, stämmigen Beine und breitete grüßend die Arme aus. Der Scheitel des Zauberers reichte gerade bis zu Sternmuschels Nabel. Er hatte O-Beine, als wären sie um einen großen runden Flußstein herum gewachsen. Sein Gesicht erinnerte sie an das einer Schildkröte. In seiner aufgeworfenen Knollennase waren die Nasenlöcher sichtbar. Die Zähne waren ihm ausgefallen, und der Kiefer hatte sich zurückgebildet, was die Schildkrötenfalten auf seinem Hals noch verstärkte. Sein Schädel war hinten abgeflacht, denn als Baby war er auf ein Wiegenbrett geschnallt worden, um seinem Schädel die Form zu geben, der das Volk seinen Namen verdankte. Das graue Haar war im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden, und von seinen Ohrläppchen hingen steinerne Ohrspulen.
    Erst als Sternmuschel in seine wäßrig-hellen Augen sah, spürte sie die Macht dieses von Geheimnissen umwitterten Mannes - aber auch noch etwas

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