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Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille

Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille

Titel: Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gear & Gear
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heiligen Zwillinge hatten schließlich ihre Krallen in die Seele von Kleiner Schild geschlagen und sie zerrissen; darauf hatten sie die Stücke in die Himmelswelten gebracht und sie in das gleißende Licht von Vater Sonne geschleudert.
    Die Ältesten sagten, daß Kleiner Schild für den Abstieg in die Unterwelten nicht stark genug gewesen sei, und die Großen Krieger hätten ihn getötet, damit seine Seele nicht für immer in der Finsternis verloren sei.
    Schauer liefen Kreuzdorn den Rücken hinab. Kleiner Schild hatte im Augenblick seines Todes mit aufgerissenen Augen voller Entsetzen in den Abendhimmel gestarrt.
    Wird es mir auch so ergehen?
    Dumpfe Trommelschläge von draußen erinnerten ihn daran, daß sein Herz, daß alle Herzen im gleichen Takt mit dem des Schöpfers schlugen, und der Schöpfer allein traf die Entscheidung, wie lange ein Junge leben durfte.
    Kreuzdorn zerrte an seinem Türkis-Halsband und mühte sich vergeblich, es etwas zu lockern, um mehr Luft zu bekommen.
    Atme einfach!
    Seit seinem frühmorgendlichen Bad im eiskalten Fluß hatte er nach Luft gerungen; die Mutter hatte ihm das nasse schwarze Haar zu einem Knoten auf dem Kopf zusammengebunden.
    Er zwang sich, bewußt ein- und auszuatmen.
    Jenseits der Tür schlief Unsere Mutter Erde unter einer weichen Schneedecke und sammelte Kraft für den Frühling. Der Anemonen-Clan ging auf Zehenspitzen, um sie nicht zu wecken. Yucca-Sandalen knirschten auf dem Schnee, und Hunde tappten leise an Kreuzdorns Tür vorbei. Während der Zeit des Austragens, der vierzig Tage der Lobpreisungen, war weder Graben noch Verputzen noch Holzhacken erlaubt. Niemand durfte sich das Haar schneiden. Die Frauen durften erst nach Sonnenuntergang ihrer Hausarbeit nachgehen, und dann nur sehr leise.
    Der Westwind trug ihm die fröhlichen Weisen der Sänger in der großen Kiva zu. Die Kiva lag auf der Westseite der rechteckigen Plaza; zwei- und dreigeschossige Bauten erstreckten sich ostwärts bis unter die steile Außenwand der Sandsteinklippe. Die Sänger bereiteten ihm den Weg…
    »Sie kommen«, flüsterte er, um sich Mut zu machen. »Gleich werden sie da sein.«
    Gepreßt stieß er den Atem aus.
    Um seine Ängste zu mildern, zählte er die schönen Körbe, die als Dekoration an den Wänden hingen, die größeren oben, die kleineren weiter unten. Schwarze geometrische Muster und braunhäutige Gestalten schmückten das Geflecht. Seine Mutter, Schneeberg, hatte sie nach ihrer abnehmenden Größe an der Wand zu seiner Linken angeordnet.
    »O ihr Geister«, flüsterte er, »ich habe Angst.«
    Seit er vier Sommer alt geworden war, hatten ihn die großen Sänger vom Anemonendorf anders angesehen als die anderen Kinder. Mit ihren scharfen alten Augen hatten sie beobachtet, wie die anderen Kinder ihn quälten, und jedesmal bemerkt, wann er die Einsamkeit der Canyons suchte, die durch das Urgestein eingeschnitten waren bis hinab zum Fluß der Seelen - und das geschah sehr oft. Jeder Kampf, den er abgebrochen hatte, war registriert worden, und sie hatten immer gesehen, wie ihm die Tränen über die Wangen gelaufen waren, wenn er ihren Gesängen zugehört hatte. Diese mächtigen Ältesten hatten in ihm mehr gesehen als ein einsames, etwas anders geartetes Kind, als einen Jungen, der seinen Vater verlor, noch bevor er einen Sommer gesehen hatte.
    Als er zehn Sommer alt war, hatte sich bei einer Wintersonnenwendfeier in Krallenstadt der alte grauhaarige Schwarzer Tafelberg zu ihm gesetzt und ihn gefragt, während der Schein des Feuers über die tiefen Runzeln seines Gesichts tanzte: »Warum weinst du, wenn du deine Stimme zu den Göttern erhebst?«
    Kreuzdorn hatte ihn angesehen und keine Antwort gewußt. Er wußte nur, daß er sich nicht dagegen wehren konnte. Aber jetzt wußte er es besser. In seinem tiefsten Innern spürte er solch eine Verzückung, solch eine Sehnsucht nach dem Zuspruch der Götter und ihrer tröstenden Berührung, daß diese Qual nur noch als Verzweiflung Ausdruck fand.
    Vor sieben Tagen war Schwarzer Tafelberg nun ins Haus seiner Mutter gekommen - er wolle mit Kreuzdorn unter vier Augen sprechen. Schneeberg hatte sich respektvoll verbeugt und sofort verabschiedet. Kreuzdorn verstand nicht, warum der Älteste ihn allein sprechen wollte. Er rutschte unbehaglich hin und her, als Schwarzer Tafelberg ihm eine knochige Hand auf die Schulter legte. Der Alte mit seinem faltigen Gesicht blickte ihn schwermütig an.
    »Kreuzdorn, man hat mich gesandt, um dich zu fragen,

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