Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
vielleicht weil wir uns vollständig von Seelen ernähren. Wir töten Tiere. Wir reißen Pflanzen heraus. All die Lebewesen, denen wir das Leben nehmen, haben Seelen, die den unseren gleichen -Seelen, die nicht sterben, wenn der Körper stirbt. Einer der Jungen hat einen Fisch aufgespießt. Er lacht über die große Forelle, die sich auf seiner Speerspitze windet, als er sie aus dem kristallklaren Wasser zieht.
lind ich überlege…
Wie viele Seelen wohnen in meinem Körper? Hunderte? Tausende?
Niemand hat mir viel über diese Seelen erzählt. Was machen sie in meinem Innern? Schlafen sie da? Ruhen sie da wie Eier in einem warmen Nest? Oder sind sie im Gewebe meiner Muskeln, in meinen Knochen aufgegangen?
Drei Hirsche lenken mich ab. Sie stolzieren über den Südrand der Wiese, ruhevoll, friedlich, bis sie die Jungen erspähen. Dann sausen sie dahin wie der Wind. Tote Äste krachen unter ihren Hufen. Die Jungen, aufgeschreckt, fahren herum.
Blinzelnd denke ich nach.
Wenn das Blut plötzlich in meinen Adern rauscht - sind das die fliehenden Hirsche? Ist mein knurrender Magen nicht vielleicht der Dachs-Thlatsina, der spielt, und mein hämmerndes Herz nicht das Geflatter von Waldhuhnflügeln?
Ich sehe an mir hinab und lege mir die Hand sanft auf die Brust. Ich bin der Hüter von tausend Seelen geworden. Von Geschöpfen, die ihr Leben gegeben haben, damit ich leben kann.
Die Jungen rufen über den Teich einander zu; sie sammeln ihren Fang und ihre Bündel zusammen und machen sich auf den Heimweg zum Abendessen.
Ich sehe sie fröhlich über die Wiese gehen, über denselben Wildpfad, über den auch die Hirsche gelaufen sind, wo sie eins werden mit den Schatten des Waldes.
Ich halte meine Hand in den Wasserfall und trinke. Als das Wasser im Bauch ankommt, tobt der Dachs herum, schüttelt vielleicht die eiskalten Tropfen ab.
Ich klopfe mir auf den Magen und schließe ehrfurchtsvoll die Augen.
36. K APITEL
Spannerraupe saß auf weichen Hirschfellen im Zimmer seiner Mutter und aß eine dicke Suppe. Geröstete Kürbisstücke hatten zusammen mit getrockneten Johannisbeeren, Sonnenblumenkernen und Bienenkraut geköchelt und bildeten eine wohlschmeckende Mahlzeit. Der Suppentopf hing an einem Dreifuß über der Wärmeschale, und daneben stand ein Topf mit warmem Tee aus getrockneten Yucca-Blütenblättern. Der sanfte Schein des Feuers färbte die Wände rosig und erhellte die prunkvoll geschmückten Gesichter der tanzenden Thlatsinas.
Auf der anderen Seite des Zimmers lag Federstein, eingehüllt in eine rote Decke, und schnarchte leise. In dem halboffenen Mund sah Spannerraupe die Lücke der fehlenden Vorderzähne. Dunkelgraues Haar war über ihrer Schlafmatte ausgebreitet. Sie sah sehr friedvoll aus, und das tat ihm wohl. Kriecher saß mit untergeschlagenen Beinen neben Federstein und aß seine Suppe auf. Der kleine dicke Mann hatte einen merkwürdigen Ausdruck auf seinem rundlichen Gesicht, als schwebte er über einem schrecklichen Kampf, sähe zu, wie er sich ausweitete, sei aber nicht in der Lage, dem Schlachten Einhalt zu gebieten. Er trug ein grünes Hemd; die Ärmel waren aufgekrempelt und ließen die dichtbehaarten Arme sehen. Er nahm sich noch einen Löffel Suppe und kaute langsam. Mit einem Maiskuchen wischte Spannerraupe den Rest Suppe aus seiner Schale und setzte sie beiseite. »Stimmt irgendwas nicht, Kriecher?« fragte er, als er in den süßen Maiskuchen biß. Kriecher schaute auf, als hätte ihn die Frage aus einem Traum gerissen. »O nein, alles in Ordnung.« Düster starrte er auf seine Suppe. »Ich habe Schlangenhaupt heute nachmittag mit dir sprechen sehen. Was hat er gewollt?«
»Er hat mir Befehle gegeben. Was ist das nur für ein Narr.« Spannerraupe sah auf seinen Maiskuchen und verzog das Gesicht. »Er will, daß nur fünf Krieger den Leichenzug auf der heiligen Straße zur Buckelkuppe begleiten.«
»Fünf?« fragte Kriecher ungläubig und kniff die Augen zusammen. »Damit fordert er einen Überfall ja regelrecht heraus.«
»Das habe ich ihm erklärt. Darauf hat er gesagt, daß mich das nichts anginge. Als Gesegnete Sonne hätte er die Entscheidung zu treffen, und er habe sie getroffen. Fünf Krieger. Nicht mehr.« Der Befehl hatte Spannerraupes Zorn erregt. Als Kriegshäuptling war er verantwortlich für die Sicherheit des Leichenzugs. Mit nur fünf Kriegern? Die Idee war lächerlich.
Spannerraupe sah Kriecher geistesabwesend in seine Schale starren. Er legte den Kopf schräg. »Aber
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