Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
gegeben … Vielleicht könnte ich einen Läufer finden, der mit dir -«
»Mutter«, sagte er lächelnd. »Ich muß allein gehen. Das ist so üblich: Ein Sänger geht allein zu seinem Schicksal.«
»Ich weiß, aber ich -«
»Hab keine Angst.« Er legte ihr eine Hand auf die Wange und beugte sich etwas hinab, um ihr direkt in die bekümmerten Augen zu sehen. »Wenn ich nicht allein zum Haus von Düne gehen kann, Mutter, wie soll ich dann jemals allein die Reise über die heiligen Straßen machen können, um die Götter zu finden?«
Schneeberg hielt die Augen einige Augenblicke lang geschlossen und schmiegte ihr Gesicht in seine Hand. »Lerne alles, was du kannst. Ich werde auf dich warten, mein Sohn.«
»Du wirst stolz sein auf mich, Mutter, das verspreche ich dir. Ich werde als Sänger zurückkehren.« Sie lächelte. »Ich weiß das, Kreuzdorn. Ich weiß das seit vielen Sommern.«
Kreuzdorn nahm seine drei Bündel an sich und steckte seine Arme durch die Schulterriemen, um das Gewicht zu prüfen. Schwer, aber nicht zu schwer. In einem der Geschenkbündel klapperte Holz gegen Stein.
»Mutter?« fragte Kreuzdorn sanft. »Darf ich…« Er zögerte. »Wenn ich dir eine Frage stelle, versprichst du, mir die Wahrheit zu sagen?«
Schneeberg befeuchtete die Lippen, als fürchtete sie seine Frage. Der Wind fuhr durch die Federn ihres Umhangs und wehte ihr das lange schwarze, schon ergrauende Haar übers Gesicht. »Ich werde antworten, so gut ich kann, mein Sohn. Frag nur!«
Der schmerzliche Ausdruck ihrer Augen verriet ihm, daß sie sich die Worte sorgfältig überlegt hatte. Er verlagerte das Gewicht seiner Bündel und ergriff die Schulterriemen, als wollte er sich daran festhalten. »Mein Vater …«
Ihr stockte der Atem. »Ja? Was ist mit ihm?«
»War er wirklich ein Händler?« »… Ja.«
»Er hieß wirklich Der-Im-Himmel-Sitzt?« Tonlos erwiderte sie: »Ja, mein Sohn.«
Kreuzdorn schaute düster auf die Kiva, wo er seine Vision gehabt hatte. Die Geister hatten keinen Grund zu lügen. Das hieß, daß seine Mutter log. Sie war eine gute, liebende Frau. Die Wahrheit mußte sehr bitter für sie sein. Er konnte sie nicht aus ihrer Seele herausziehen wie ein Kaninchen aus seinem Röhrenausgang. Er würde es auch nicht versuchen. Ein Mensch hatte ein Recht, Geheimnisse zu bewahren, wenn es nötig war. Außerdem wußte er, daß sie es ihm eines Tages erzählen würde - und das genügte.
Kreuzdorn küßte sie auf die Stirn und flüsterte: »Ich danke dir, Mutter. Daß du dich um mich gesorgt hast. Daß du mich geliebt hast. Du bist das Wichtigste in meinem Leben.«
Schneebergs Augen trübten sich, und sie umarmte ihn, die Arme ungeschickt um seine schweren Bündel schlingend. Heiser sagte sie: »Ich liebe dich, Kreuzdorn. Ich habe dich immer lieb gehabt.« »Ich verspreche dir, ich werde dich nicht enttäuschen.« Sie ließ Kreuzdorn los und schaute durch Tränen zu ihm auf. »Schwarzer Tafelberg bat mich, dir etwas auszurichten.« »Was denn?« Sie sprach langsam: »Ich soll dir sagen: ›Du mußt das Herz einer Wolke haben, um auf dem Wind zu gehen.‹«
Kreuzdorn lächelte, es wurde ihm warm ums Herz. Er legte sich eine Hand auf die Brust. »Sag ihm bitte, daß ich seine vielen Freundlichkeiten nicht vergessen werde. Ich will seine Worte in meiner Herztrommel bewahren.«
Schneeberg nickte und trat zurück. »Hab eine gute Reise, Kreuzdorn. Behalte einige von den blauen Maiskuchen übrig, für dein erstes Abendessen mit Düne. Ich habe noch zusätzliche Piniennüsse eingepackt. Ich habe gehört, die mag er.«
»Ich danke dir, Mutter. Ich wünschte…« Er hielt inne. »Ich wünschte, ich brauchte nicht zu gehen. Aber ich kehre so schnell wie möglich wieder zurück. Leb wohl.«
Er ging den vertrauten Pfad zum Fluß hinab, schaute aber immer wieder zurück, um Schneeberg zu winken. War er erst einmal übergesetzt worden, dann hatte die Reise wirklich angefangen. Er blickte zu den Zwillingssäulen der Großen Krieger zurück. Beschützt mich, bitte. Wenigstens bis ich beim heiligen Heimatlosen
bin. Stumm standen sie da, strenge Hüter des Anemonendorfs und des fruchtbaren Schwemmlands, das sie überschauten.
Kreuzdorns nächste Landmarke würde der Weltenbaumberg sein. Der Weltenbaum wurzelte tief in der Ersten Unterwelt, und der Stamm wuchtete sich hoch durch die anderen Unterwelten, bis er die Haut Unserer Mutter Erde durchbrach. Die Äste ragten weit in die vier Himmelswelten, waren aber zu groß und
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