Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
der Hand. »Jetzt weiß man schon überall von Distels Verrat. Sie kann nicht heimkehren. Nie mehr. Sie und Maisfaser sind hier bei uns viel sicherer als bei den Hunden vom Rechten Weg. Natürlich, Distel könnte vielleicht ein abgelegenes Dorf finden, das sie aufnimmt. Aber binnen weniger Monde würden die Ersten Menschen davon erfahren und sie mit Sicherheit töten.«
Sängerling umklammerte seine Tasse. Daran hatte er nicht gedacht. »Ja, das ist sicher wahr.« Flaumfeder sah Eichelhäher, dann Sängerling an. Sie neigte den Kopf. »Du möchtest, daß Distel und Maisfaser hierbleiben, Enkel?«
»Ich weiß, das wird dir nicht gefallen«, sagte Sängerling mit einigem Bangen. »Du hast vielleicht schon an junge Mogollon-Frauen gedacht, die für mich in Frage kämen. Aber ich möchte, daß du weißt: Ich liebe Maisfaser. Wo immer sie ist, da will auch ich sein.«
Flaumfeder seufzte, als hätte sie tatsächlich schon an passende Verbindungen gedacht, aber sie zwang ihr faltiges Gesicht zu einem Lächeln. »Dann hoffe ich, sie bleiben aus freiem Willen bei uns. Und was ist mit anderen Gefangenen, Sängerling? Was willst du, soll ihnen geschehen?« Eichelhäher schürte das Feuer erneut, das Kinn grimmig vorgestreckt.
Sängerling fragte: »Gro-Großvater, was meinst du dazu?«
Daß man ihn um Rat fragte, schien Eichelhähers Zorn zu besänftigen. Der würdevolle, weißhaarige Häuptling schaute auf, und seine Kinnpartie entspannte sich. »Der einzige, den ich nicht freigebe, ist Eisenholz. Ich überlasse es dir, über das Schicksal der anderen zu entscheiden, aber -« »O ich danke dir, Großvater! Ich -«
»Warte!« Eichelhäher hob eine Hand. »Ich warne dich! Entscheide dich weise! Hör mich an. Ich habe dir keinen Gefallen getan, Sängerling. Nachtsonne, die Ehrwürdige Mutter von Krallenstadt, war an den Entscheidungen zu jedem Überfall auf uns beteiligt, auch bei dem Überfall, bei dem deine Mutter Rehkitz als Sklavin verschleppt und deine Großmutter brutal ermordet wurde und die Lieben vieler anderer Familien in diesem Dorf sterben mußten. Wenn du sie nach all dem Elend, das sie verschuldet hat, laufenläßt, dann wird es den Leuten hier sehr schwerfallen, dir zu verzeihen.«
Sängerling dachte darüber nach und nickte dann. »Ich verstehe.«
»Und als Sonnenseher muß Nordlicht von vielen Überfällen gewußt und ihnen seinen Segen gegeben haben, wenn nicht sogar allen. Düne andererseits ist unser wertvollster Gefangener. Wir könnten dem Volk des Rechten Wegs einen Handel anbieten: Wir lassen ihn frei und bekommen dafür fünfzig oder sogar hundert unserer eigenen Leute zurück. Wir haben hier viele bei den Gila-Monster-Klippen, die ihr Leben gäben, um ihre Familienmitglieder wiederzusehen.« Eichelhäher machte eine Pause, um Sängerlings Antwort abzuwarten, aber der schaute ihn nur unglücklich an. »Denk gut nach, Enkel. Die Entscheidungen, die du triffst, bleiben an deinen Händen kleben wie heißes Kiefernharz. Vorausgesetzt natürlich, daß Flaumfeder sie billigt.«
Sängerling zog die Knie an, stützte seine Arme darauf und runzelte die Stirn. Er fühlte sich leer. Wenn er die Freilassung von Nachtsonne, Düne und Nordlicht verlangte, wie er es eigentlich müßte, hätte er hier keine Heimat mehr. Seine eigenen Vettern, Tanten, Onkel, vielleicht sogar seine Großeltern würden ihn deswegen verachten. Als Rache für den Verlust geliebter Menschen könnten einige sogar erwägen, ihn zu töten.
Aber zu seiner Mutter konnte er auch nicht zurückkehren. Irgendwann würde die Wahrheit über seine Geburt ans Licht kommen, und wenn die Dürre zu lange andauerte oder der Mais auf dem Halm verdorrte, würden ihn haßerfüllte Blicke begleiten. Jeder im Anemonendorf könnte ihn töten, während Distel bei den Gila-Monster-Klippen eine Heldin wäre - und ihretwegen wäre auch Maisfaser hier angenommen. Für Sängerling gab es keinen Zufluchtsort. Nirgendwo würde man ihn aufnehmen. Düne würde es vielleicht, aber Sängerling könnte Düne nicht in so eine gefährliche Lage bringen. Er spielte mit dem Saum seines Hemdes und zerknüllte es mit den Fingern. Er mußte unbedingt mit Maisfaser sprechen.
Und mit Nordlicht. Ich muß ihm vorhalten, was Trauertaube mir gesagt hat. Ich glaube es zwar nicht, aber…
Sängerling holte Luft. »Großvater, kannst du mir etwas über meine Mutter erzählen? Wie sie war. Wie sie gestorben ist. Niemand hat mir davon erzählt. Wenn ich mehr darüber wüßte, dann
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