Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
erzitterte, als fahre eine Brise darüber hin, aber der Windjunge konnte nicht so tief in die Höhle eindringen. Kreuzdorns Augen verengten sich. Er blickte hinauf, dorthin, wo die Wassertropfen herkamen, die immer noch im Takt ins Wasser fielen - plopp-plopp-plopp. Die Ursache sah er nicht. Die Pfütze fing an, sich zu drehen und zu schwanken. Wasser strömte die Höhlenwände hinab.
Kreuzdorn streckte sich auf dem Bauch liegend aus, das Kinn auf den Pfoten, um zu sehen, was geschah.
Jemand brüllte, wie in Todesangst. Dann ein Schrei, ein dünner, zittriger Schrei, der ihn aufspringen ließ, und er rannte, fallend und rutschend, den nassen Gang hinauf, so schnell ihn seine Pfoten trugen. Aber als er gerade das Sauerdorngestrüpp erreicht hatte, traf ihn ein stechender Schmerz, wie von einem Kriegsspeer, in den Bauch. Er jaulte kurz auf und fiel hin, rutschte, auf der Seite liegend, die schiefe Ebene hinab, bis eine Wand ihn aufhielt. Wasser durchnäßte seinen Pelz. Keuchend lag er da und schaute nach einem Angreifer aus.
Donnergrollen durchlief die Höhle, aber aus der Tiefe kamen Stimmen - Hunderte, nein Tausende schreiender, brüllender Menschen. Dann - sah er sie. Sie lösten sich aus den Wänden. Die Höhle war voller laufender Leute mit geschwungenen Fäusten. Wie ein aufgestörter Bienenschwarm stürzten sie sich auf ihn, umringten ihn, traten ihn, schlugen mit Kriegskeulen auf ihn ein und brüllten in einer unbekannten Sprache. Kreuzdorn ringelte sich zu einer Kugel zusammen und jaulte verzweifelt; er betete, sein Vater möge kommen und…
Eine schöne, hochgewachsene Frau trat aus dem Innern der Türkis-Höhle hervor, und die tobenden Leute lösten sich in nichts auf, als hätte es sie nie gegeben. Er konnte ihr Gesicht mit der Stupsnase erkennen. Hüftlanges schwarzes Haar hing ihr über die Schultern. Sie trug ein wunderschönes scharlachrotes Kleid, ein Farbton, den er noch nie gesehen hatte, schillernd wie ein Sonnenaufgang. Ein kleiner Pulverbeutel war an ihrem Gürtel befestigt; ein Türkis-Anhänger hing ihr an einer Schnur um den Hals.
»Wer bist du ?« rief Kreuzdorn. »Was willst du von mir? Hast du die Vision verscheucht?« »Ich lasse Visionen kommen und gehen.« Ihre tiefe Stimme jagte ihm Schauer über den Rücken. Sie kam näher, fast zu anmutig, um noch menschlich zu sein, und sah ihm in die Augen, als suchte sie seine Seele. »Du bist vom Coyote-Clan. Warum bist du hier?«
Bebend brachte er hervor: »Mein… mein Vater hat mich hergebracht.«
Sie kniete nieder, so nahe, daß Kreuzdorn die Wärme ihres Körpers spürte. Locken ihres langen Haares streiften über sein Fell. Er schaute der Frau in die kohlschwarzen Augen, zutiefst erschrocken wie eine Eidechse, die plötzlich den Flugwind eines herabstürzenden Falken verspürt. Die Frau betrachtete alle Einzelheiten seines Körpers genau. Sie strich ihm über die Pfoten und über den pelzigen Rücken. Als sie seine spitzen Ohren prüfte, glitt ihre Hand mit solch schmerzhafter Zärtlichkeit darüber, daß sein Herz anfing, wie wild zu schlagen.
»Wie heißt du?« fragte sie.
»Kreuz… Kreuzdorn.«
Sie stand auf und stand vor ihm wie eine Säule aus scharlachroten Flammen. »Kreuzdorn vom Coyote-Clan. Wer ist dein Vater?«
»Ich… ich weiß es nicht… wirklich nicht.« Mit der Schnauze deutete er auf den Höhleneingang im Mondlicht. »Soll ich ihn rufen? Er ist auf der Wiese -«
»Sehr kühn von ihm, dich herzubringen. Richte ihm das aus.« Ihr Blick bohrte sich in seine Augen. »Im allgemeinen töte ich neugierige Besucher.«
»Töten?« fragte Kreuzdorn atemlos. »Warum? Wer bist du?«
»Ich bin die Hüterin des heiligen Schildkrötenbündels. Mein Clan ist… war… der Hufsohlen-Clan.« Kreuzdorn erhob sich; seine Knie zitterten. »War? Ist dein Clan tot?«
»Tot und verschwunden. Sein Heiligtum, das Bündel, wurde vor zweiundzwanzig Sommern geraubt. Die Leute verloren ihren Glauben, sie heirateten in andere Clans ein. Der Clan zerfiel. Ich bin alles, was noch von dem edlen Hufsohlen-Clan übrig ist.«
Sie sagte das voller Kummer. Sie spähte zurück in die Türkis-Höhle, die jetzt schiefergrau war und so still wie ein Grab. Ihr Blick richtete sich auf die Wassermulde, und sie runzelte die Stirn. Vielleicht sah sie dort etwas, was er nicht sah. Etwas, das sie fesselte. Ihre Mundwinkel zuckten. Eine ganze Weile blieb sie stumm. Dann sagte sie sehr sanft: »Ah, ich verstehe.« Sie nickte. »Ich verstehe jetzt, warum er
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