Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
Fell zwischen den Zehen. Eisiger Wind peitschte ihnen ins Gesicht, blies ihnen die Fellhaare glatt und zwang sie, die Augen zuzukneifen.
Sein Vater stand am Rand der Höhle, die Schnauze vorgereckt; er schnüffelte in die dumpfe, nach Moos riechende Luft. Wie vor etwas Bedrohlichem wich er mit eingezogenem Schwanz zurück. »Was ist los?« fragte Kreuzdorn.
»Ich werde Wache halten. Du mußt allein hineingehen, mein Sohn. Mir ist die Höhle verschlossen.« »Aber …« Kreuzdorn spähte hinein, und seine Vorderläufe zitterten. »Woher weißt du, daß sie für mich offen ist?«
Das Echo der Stimme seines Vaters tönte dumpf aus der Höhle: »Geh jetzt! Beeil dich!« Sein Vater wandte sich um und trottete zum Fuß des Abhangs, wo er die Wiese prüfend beobachtete, ob sich dort etwas regte.
Kreuzdorn machte vorsichtig einen Schritt nach vorn. Näher kommend bemerkte er, daß die Höhle nach unten abfiel. Ein wenig Mondlicht fiel hinein und beleuchtete einen schmalen Streifen im Innern wie mit einer Fackel. Ein kriechendes Berberitzengestrüpp versperrte ihm den Weg. Die wachsigen Oberflächen der Blätter, denen der Stechpalme ähnlich, warfen das fahle Mondlicht zurück. Kreuzdorn trat leichtfüßig in das Gebüsch und prüfte den Wind. Die Höhle roch seltsam modrig. Sie schien klein und eng, aber er konnte es nicht genau sagen. Der halbmondförmige Streifen Licht war nur ein paar Körperlängen groß. Dahinter breitete sich grenzenlose Dunkelheit aus. Er zwängte sich durch das Gestrüpp und ging tiefer hinein.
Seine Fußnägel klickten auf Steinen; er hörte Wasser tropfen, ein melodisches Plopp-plopp. Seine Schnurrhaare bebten. Je tiefer er eindrang, um so wärmer wurde es.
Kreuzdorn schaute sich um. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel, und er bemerkte einen dünnen feuchten Überzug auf den Wänden. Tropfen rannen hinab und sammelten sich, schwärzlich glänzend, in Bodenmulden.
Er ging schneller, schwankend auf der abfallenden Fläche. Der Höhlenboden wärmte ihm die Pfoten und schmolz den verkrusteten Schnee zwischen den Zehen. Er erschauerte wohlig. Was er nun betrat, erschien ihm wie eine große Kammer. Eine schwarze Wasserpfütze bedeckte den Boden, und jetzt erkannte er, woher die Tropfen kamen, von einer Stelle direkt über ihm, den Felsen hinabrinnend und in die Pfütze fallend. Feuchter Dunst schwebte unter der Decke; von dort flohen Ranken in den helleren Gang, krochen immer weiter und höher bis zum Eingang der Höhle, wo sie schimmerten, wuchsen aber noch höher hinaus in den erhellten Himmel und sammelten dabei die Kälte um sich herum wie dicke Wollumhänge, die ihrerseits immer weiter wuchsen, als wollten sie Wolken werden.
Kreuzdorn betrachtete sie wie verzaubert.
Schwester Mond, wie ein riesiger Silberball am Himmel hängend, schien jetzt über dem Höhlenrand. Er drehte sich wieder zu der Kammer um und erwartete, eine erhellende Lichtflut einfallen zu sehen, aber als der Mond höher stieg, sah er einen flackernden Schein und dann eine Reihe von grellen Lichteinfällen, als ob Blitze kreuz und quer durch das Höhleninnere schössen. Eine blendende azurblaue Lohe baute sich auf. Aus Kreuzdorns Gurgel kam ein halb ächzender, halb knurrender Laut, er setzte sich auf die Hinterläufe und winselte vor Angst. Aber jetzt sah er…
Im Laufe von vielen tausend Sonnenkreisen hatte Sickerwasser diesen runden Hohlraum in eine dicke Türkisader eingeschnitten, und diese Höhle - das war die Kammer! Überall stachen scharfe Ecken hervor, wie Kristalle in einer Druse. Im Mondlicht glühten sie wie ein leuchtendblaues Feuer. Als Schwester Mond im Himmel höher kletterte, verschob sich der Lichteinfall, und Kreuzdorn starrte mit offener Schnauze ehrfürchtig auf den Strahl, der jetzt direkt durch den Einlaß kam; die Höhle verwandelte sich in einen stürzenden Wasserfall von eisblauen, funkelnden Azurlichtern, die über die Decke flössen und den Boden überfluteten. Diese ganze blaue Welt des geheiligten Steins war wie ein Meer von Flammen, die seine Augen versengten und das Blut in seinen Adern in einen feurigen Funkenstrom verwandelten.
Die Feuersbrunst erstarb.
Erstarb einfach.
Schwester Mond kletterte höher, und ein diffuses zinnernes Licht fiel in die Höhle. Kreuzdorn blinzelte.
Mit klopfendem Herzen starrte er in die große Wasserlache. Er konnte noch den Türkis-Rand rings um die Mulde sehen, aber er schimmerte matt, wie gewöhnlicher Schiefer.
Das Wasser in der Pfütze
Weitere Kostenlose Bücher