Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
die ersten großen Tropfen auf ihrer Stirn zu spüren. Leise prasselnd fiel der Regen auf die uralten Mauern und auf den hellbraunen Staub der Plaza. In der Wüste war Regen der Inbegriff des Lebens. Der Wind fuhr zwischen den Ruinen hindurch und wirbelte durch Slumbers kurzes graues Haar, das ihr gegen die runzligen Wangen, die Stirn und die kurzen Wimpern schlug. Slumber wandte ihr Gesicht ab und ließ den Wind vorbeibrausen.
Die süße, fröhliche Weise einer Holzflöte tönte durch die Ruinen. Slumber horchte auf und schaute umher. Hörten andere das auch? Sie schaute scharf auf den hochgewachsenen, blonden Mann. Er hatte aufgehört zu sprechen, sein Mund stand noch offen. Aber er schüttelte leicht den Kopf, als wollte er verneinen, was seine Seele gehört hatte, weil seine Ohren es nicht gehört hatten, und wieder fing er an, mit den Händen zu gestikulieren. Slumber ließ ihren Blick über den halbrunden Ruinenbau gleiten, um den Musiker ausfindig zu machen.
Maggie führte die zwei Personen zur Mitte der Plaza. Dort blieb sie stehen und sagte: »Ich verstehe deinen Standpunkt, Kyle, aber ich teile ihn nicht. Die hiesigen Stämme haben diesen Canyon seit Jahrhunderten für ihre religiösen Zeremonien benutzt. Unser vorgeschlagener Plan sieht lediglich eine offizielle Anerkennung dieser Tatsache vor. Wir -«
»Du planst, den Park einen Monat lang zu schließen, Maggie!« Kyle stemmte die Hände auf seine knochigen Hüften. Er trug Khaki-Shorts, ein weißes T-Shirt und eine Sonnenbrille. Der Wind zauste an seinem blonden Haar.
Slumber warf einen Blick auf seine Beine. Dünn wie Vogelbeine und behaart wie bei einem Bär. Hätte sie solche Beine, würde sie sie bedeckt halten, damit niemand dumm guckte.
»Und wer finanziert denn Ihren Plan ?« wollte die Frau wissen. »Die Steuerzahler! Leute wie ich, die seit zwanzig Jahren im Juni in diesen Park kommen! Weiße Erholungssuchende, die wollen Sie fernhalten! Das ist Rassismus!«
»Sachte, Marisa. Das geht zu weit«, wandte Kyle warnend ein.
Maggie senkte den Kopf, als wollte sie sich sammeln. Sie war hochgewachsen und schlank, mit ausdrucksstarken braunen Augen und kurzem schwarzem Haar, und trug eine olivfarbene Uniform. Die Bügelfalten ihrer Hose waren perfekt. Ein geflochtener Ledergürtel umgab ihre Taille. Das Schild auf ihrer linken Brust schimmerte. Das Stoffabzeichen der Regierung schmückte ihre linke Schulter. Slumber konnte es von ihrem Platz aus nicht lesen, aber sie wußte, es war ein Abzeichen des ParkPersonals, das Touristen sagte, daß ihre Enkelin hier Dienst tat, falls sie sich über irgendwas beschweren wollten oder eine Auskunft verlangten oder wieder einmal fragten, was »Anasazi« bedeutete.
Slumber lächelte. Sie hatte die Frage mindestens hundertmal gehört: »Heißt das Die Alten oder Die alten Feinde?« Ihre Antwort war immer dieselbe: »Keine Ahnung. Wenn Sie's je rausfinden, dann sagen Sie's mir bitte.« Ihre eigenen Leute, die Keres, behaupteten, die Nachfahren des Volkes zu sein, das vor tausend Jahren in diesem Canyon gelebt hatte, aber das Wort »Anasazi« hatte sie nie gehört, bevor die Weißen es auf einmal benutzten.
»Kyle«, sagte Maggie, »die Park-Verwaltung will ja den Park nicht schließen. Man bittet die Besucher nur darum, während der Sommersonnenwende freiwillig bestimmte heilige Orte zu meiden, das ist alles. Viele Pueblo-Völker kommen her, um rituelle Heilungen und Zeremonien der Erneuerung und der Läuterung vorzunehmen. Die Stämme glauben, daß dieser Canyon eine geistige Kraft hat. Ich weiß, das ist für viele schwer zu verstehen, aber -«
»Nein, Maggie.« Er schüttelte den Kopf. Die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille blitzten. »Das ist gar nicht schwer. Ich spüre diese geistige Kraft hier. Und deswegen komme ich ja.« Obwohl ihre Enkelin tatsächlich eigentlich Magpie hieß, nannte sie sich Maggie, seitdem sie ihren ersten Job im öffentlichen Dienst bekam. Wenn Maggie es so wollte, sollte es Slumber recht sein - solange Maggie nicht erwartete, daß auch sie diesen Namen benutzte.
»Was verstehen Sie denn unter ›freiwillig‹?« fragte die Frau. »Werden wir bestraft, wenn wir diese Plätze nicht meiden?«
»Natürlich nicht, Ms. Fenton. Wir hoffen nur, daß Sie die Ungestörtheit der Heiligtümer unserer einheimischen Völker achten.«
Ms. Fenton wirkte sehr geschäftsmäßig. Ihr langes angegrautes braunes Haar war in einem ordentlichen Knoten zusammengebunden. Das unterstrich die
Weitere Kostenlose Bücher