Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
gutturalen Geräusche, die sie von sich gab, taten ihm weh. War sie im Geist wieder daheim ? Sah sie ihr Dorf brennen und ihre Familie sterben?
Die Geschichte, die sie ihm am Morgen erzählt hatte, quälte ihn. Wenn nun wirklich Nachtsonne und Nordlicht ihre Eltern waren? Die Ersten Menschen heirateten zwar untereinander, aber sie würden natürlich eine Beziehung zwischen Tante und Neffe als Inzest betrachten. In dem Fall wäre Seide ein Schandfleck, den man beseitigen müßte.
Sängerling zog sich die Decke bis zum Hals hoch. Diese Möglichkeit hatte er Seide nicht angedeutet - doch klug, wie sie war, hatte sie das sicher schon selbst erwogen.
Düster starrte er durch das Dachloch auf die Abendleute. Vor dem Indigo-Hintergrund der Nacht funkelten einige, während andere nur mondbeschienene Dunstpunkte waren.
Nach Berücksichtigung aller Einzelheiten, die sie ihm erzählt hatte, schien es glaubwürdiger, daß Seides Geburt das Ergebnis eines Ehebruchs war. Eine machtvolle Ehrwürdige Clan-Mutter wagte es vielleicht, ihren Ehemann zu betrügen, aber sie wäre nicht so verrückt, Blutschande zu begehen - denn sie wußte, daß ein solch verruchtes Verbrechen den Tod aller Beteiligten, sie selbst eingeschlossen, zur Folge haben würde.
Sängerling gähnte, und sein Atem kondensierte zu einem schimmernden weißen Wölkchen; es war kalt geworden in der Nacht. Er wünschte, er hätte seinen Umhang aus dem Bündel geholt, um ihn jetzt als weitere Zudecke zu benutzen.
Seide schlief auf dem Rücken, einen Arm um den Kopf gebogen. Ihr langes Haar lag ausgebreitet auf dem Boden. Der Anblick erfüllte Sängerling zugleich mit Sorge und Glück.
Er hatte Angst um sie. Bis heute war ihm die Tiefe seiner Gefühle nicht klar gewesen. Aber Düne hatte diese Einsicht gefördert, als er sich weigerte, ihm mehr über die Liebe zu sagen. Sängerling war so verlegen gewesen, daß er sich von Seide abgewandt hatte; er hatte sich seiner Gefühle geschämt, denn er liebte sie - und er wußte, daß Düne das für falsch hielt.
Wie selbstsüchtig du bist. Seide ist vielleicht in großer Gefahr, und du denkst nur an deine eigene Schuld?
Er blickte wieder hinüber, und schlimme Vorahnungen quälten ihn. Was würde er tun, wenn jemand in Krallenstadt versuchte, ihr weh zu tun?
Schwester Mond kletterte am Himmel empor, und ihr Silberschein fiel durch den Dacheinlaß und erhellte das Zimmer.
Seine Gedanken glitten ab.
In seiner Seele hörte er die Hüterin des Schildkrötenbündels flüstern: Verhalte dich wie ein Coyote. Sie sind flink und schlauer, als Menschen glauben. Sie beobachten aus der Entfernung und warten lautlos, bis sie wissen, daß die Zeit zum Handeln gekommen ist. Sei stets schlauer, als die Menschen vermuten. Handle nie, bevor du dir nicht deines Zieles sicher bist.«
Er flüsterte: »Ich muß schlau sein.«
Wie ein Coyote in einem kalten Bau rollte er sich zu einer Kugel zusammen und atmete unter seiner Decke, um sich warm zu halten.
37. K APITEL
Nachtsonne trat vor dem Sonnenaufgang auf das Dach hinaus. In der stillen, kalten Luft verdichtete sich ihr Atem zu weißen Wölkchen. Im Osten hob sich ein Streifen von Türkislicht über den dunklen Canyon-Rand, aber die Kuppel von Bruder Himmel flimmerte noch mit Tausenden von Abendleuten. Die eckige Silhouette von Kesselstadt im Osten war von einer tiefblauen Kontur umrissen, wie ein schlummerndes Tier, das an der Canyon-Wand lauert.
Eine silberne Decke aus Reifkristallen lag über Krallenstadt. Das Wetter des zweiten Mondes war zuweilen launisch, an einem Tag heiß, am nächsten eiskalt. Im allgemeinen brachte der Einbruch der Dunkelheit auch Kälte mit.
Nachtsonne zog ihren Truthahnfeder-Umhang eng um sich. Zedernholzfeuer liehen dem Morgen ihren Duft. Sklaven kauerten sich um eine Schale voller Glut auf der Plaza und wärmten sich mit ausgestreckten Händen. Auf dem Dach oberhalb des Tores hielt Spannerraupe Wache; seine schwarze Gestalt hob sich geisterhaft gegen den sich erhellenden Himmel ab.
Nachtsonne ging am Halbrund der Canyon-Mauer entlang zur Leiter, die zum fünften Stockwerk und zu Krähenbarts Zimmer führte. Beim Klettern schlug ihr der lange schwarze Zopf gegen den Rücken. Fahlblaues Licht schien auf ihr dreieckiges Gesicht und blitzte von dem Armband aus Korallen und Jett, das sie am rechten Handgelenk trug.
Als sie aufs Dach stieg und vor der niedrigen T-förmigen Tür stand, die zu Krähenbarts Zimmer führte, holte sie tief Atem. Seit seinem
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