Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
Weile. Dann murmelte er: »Ein Mädchen! Ich hab gewußt, daß es ein Mädchen war.«
Spannerraupe fühlte sich leer und elend. »Du meinst, du hältst Maisfaser für die Tochter von Nachtsonne?«
Kriecher ließ seine Blicke rings durch den Raum wandern; müßig betrachtete er die Masken der Thlatsinas. »Wenn sie es ist, dann mögen uns die Götter beistehen.«
Verwirrt und furchterfüllt fragte Spannerraupe: »Weil es vielleicht den Tod von Nachtsonne bedeutet?«
Kriecher senkte den Kopf und rieb sich über die tiefen Stirnfalten.
»Nein. Viel schlimmer. Verstehst du nicht? Wenn dieses Mädchen die Tochter von Nachtsonne ist, dann bedeutet das, daß der heilige Heimatlose, der große Sonnenseher und Nachtsonne sich verschworen haben, die Gesegneten Ältesten der Ersten Menschen zu täuschen. Und es ist ihnen gelungen. Wenn die Wahrheit ans Licht kommt…«
Er beendete den Satz nicht. Es war nicht nötig.
Das Blut rauschte mit solch betäubender Macht in den Ohren von Spannerraupe, daß er sich selbst kaum hörte. »Das bedeutet ihrer aller Tod.«
Kriecher stand auf und schritt nervös vor der Wärmeschale auf und ab, die Hände in die Seiten gestützt. Die Falten seines grünen Hemdes schimmerten orangefarben im Feuerschein. »Aber das ist seltsam. Nordlicht und Nachtsonne könnten so etwas planen. Aber Düne? Warum sollte sich der heilige Heimatlose in so etwas verwickeln lassen -?« Kriecher hielt inne und flüsterte: »Wäre das möglich?«
Spannerraupe sprang auf die Beine. »Was denn? Sag mir, was hier nicht stimmt.«
»Ich … ich bin nicht sicher, aber ich glaube -«
Federstein wälzte sich auf die Seite, und beide schwiegen. Graues Haar hing ihr in Strähnen über die Ohren. Tränen hingen in ihren kurzen Wimpern.
»O Federstein«, sagte Kriecher sanft. »Haben wir zu laut gesprochen? Verzeih. Du solltest schlafen. Wir wollten dich nicht wecken.«
Kriecher sank auf die Knie und zog ihr die Decke über die Schultern.
Mit schlaffem Gesicht, die Augen groß und leer, murmelte Federstein: »Was ist mit euch beiden los? Sie haben eine lalle gestellt'. Seht ihr das nicht?«
Spannerraupe fühlte, wie sich ihm der Magen zusammenzog. »Eine Falle?… Mutter? Bist du wach? Bist du bei uns? Oder fliegt deine Seele?«
Speichel rann ihr aus dem Mundwinkel übers Kinn. Sie fing an zu keuchen, als liefe sie, liefe mit letzter Anstrengung, um ihren Verfolgern zu entgehen.
Kriecher wischte ihr mit einem Deckenzipfel den Speichel ab. »Federstein? Bist du bei uns?« »Ich fliege«, murmelte sie kaum hörbar, »fliege mit den Sternschnuppenleuten.«
Kriecher sah Spannerraupe liebevoll an. Beide sanken wieder zu Boden. Kriechers Hand zitterte, als er sich die Haare aus den Augen kämmte. »Wir behalten das wohl besser für uns.« Er knirschte mit den Zähnen und fügte hinzu: »Jedenfalls im Augenblick.«
»Ja.« Spannerraupe stimmte zu. »Im Augenblick.« Aber er fragte sich, wie er sich verhalten sollte, wenn er Palmlilies junge Tochter über die Plaza gehen sah. So tun, als kenne er sie nicht? Sein Magen rebellierte. Es würde sehr schwer sein. Da er nun wußte, wer sie war, sehnte er sich danach, neben ihr zu sitzen und zu reden. Er mußte einfach mit ihr reden. Wenn er ihr erklärte, warum er ihre Familie getötet hatte, würde sie ihm vielleicht sagen, daß es nicht seine Schuld war, daß er Befehlen zu gehorchen hatte. Vielleicht würde sie ihm das herzbewegende Kleinmädchenlächeln schenken, an das er sich so gut erinnerte, und ihm sagen, daß sie ihn für schuldlos hielt. Spannerraupe verschränkte die Finger in seinem Schoß und drückte sie ganz fest. Vielleicht würde sie sich aber auch auf ihn stürzen und ihn mit ihren bloßen Händen in Stücke reißen.
Er erschauerte. Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich mich dann nicht wehren. Als Spannerraupe düster auf seine verschränkten Hände sah, kam ihm ein schrecklicher Gedanke. Er schaute zu Kriecher auf, und der kleine Mann starrte zurück.
»Schlangenhaupt war heute sehr an Maisfaser interessiert«, flüsterte er. »Glaubst du, er könnte vielleicht dasselbe vermuten wie wir?«
Sängerling hatte seine Decken auf die andere Seite des Zimmers gebracht. Dort hatte er, auf der Seite zusammengerollt, seit zwei Zeithänden hellwach gelegen. Er war nur damit beschäftigt, Seide in dem gedämpften rötlichen Schein der Wärmeschale zu beobachten. Sie schlief unruhig, warf sich mit hin und her wehenden Haaren in ihren Decken herum. Die leisen
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