Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
nicht deswegen hast du dir Sorgen gemacht, Kriecher, nicht wahr?«
Kriecher winkte ab, als wollte er Spannerraupes Anteilnahme abwehren. »Nein, aber… ich meine, ich mache mir wirklich Gedanken über Schlangenhaupt. Er ist so ein arroganter junger Mann, und ich weiß, du warst -«
»Sag's mir, Kriecher. Bitte.«
Kriecher ließ die Suppenschale in seinen Schoß sinken. »Ich habe vorhin mit Trauertaube gesprochen. Sie hat mir einiges erzählt, was mich sehr beunruhigt.«
Spannerraupe biß wieder in seinen Maiskuchen und wartete darauf, daß Kriecher ausführlicher wurde. Viele Sommer lang war Trauertaube Kriechers Geliebte gewesen, obwohl Kriecher nie darüber sprach. Spannerraupe wußte davon, weil er die beiden zusammen gesehen hatte. Die zärtlichen Berührungen zwischen ihnen konnten nur eines bedeuten. Diese Verbindung schien Spannerraupe völlig verständlich. Andere betrachteten sie allerdings als schändlich. Ein Clan-Führer wie Kriecher hätte viel höherrangige Geliebte haben können. Aber offenbar wollte er keine. Trauertaube befriedigte Kriechers physische Bedürfnisse, während Federstein sein Herz besetzt hielt.
Da Kriecher nicht fortfuhr, fragte Spannerraupe: »Was hat Trauertaube erzählt?«
Kriecher seufzte tief. »Hast du die junge Frau gesehen, die heute morgen in die Stadt kam?« »Nur kurz. Warum?«
»Trauertaube hat gesagt, sie stamme aus Schildkrötendorf, sei der Vernichtung des Dorfs entgangen und nun hierher gekommen.«
»Warum?«
Kriecher drehte die Tontasse in seinen Händen. »Sie sucht nach Verwandten. Offenbar ist die übrige Familie bei dem Überfall der Turmbauer getötet worden.«
Spannerraupe verzehrte den Rest seines Maiskuchens, nachdem er genießerisch das Aroma in sich aufgenommen hatte, und wischte die Krumen von den Händen auf den Saum seines roten Hemdes. »Warum beunruhigt dich das? Klingt doch völlig natürlich.«
»Da würde ich dir normalerweise zustimmen, aber die junge Frau sagte verschiedenes, was keinen Sinn ergab.«
»Zum Beispiel?«
Kriecher aß seine Suppe auf und setzte die Schale auf dem Fell ab. »Sie erzählte Gelbmädchen, ihre Mutter Bienenkraut sei Steinmetz gewesen und die Frau eines Mannes namens Wasserkröte aus dem Coyote-Clan. Sie -«
»Das ist komisch.« Spannerraupe streckte seine langen Beine auf der warmen Hirschfelldecke aus. »Ich habe Schildkrötendorf verschiedentlich besucht, aber ich habe nie gehört, daß sich da Frauen vom Ameisen-Clan aufhielten.«
»Das hat auch sonst niemand gehört, Kriegshäuptling.«
Sie starrten sich an, und Spannerraupe runzelte die Stirn. »Und was hat sie sonst noch gesagt?« Kriecher nahm seine Tasse und schwenkte den Inhalt herum, wie um die Bruchstückchen der aufgebrühten Blütenblätter aufzuwirbeln.
Er nahm einen großen Schluck. »Sie hat gesagt, die Mutter sei nach Schildkrötendorf gezogen, von Lanzenblattdorf aus, und daß -«
»Lanzenblatt?« Erinnerungen blitzten auf… Schreie… außer Kontrolle geratene lodernde Feuerbrände… Palmlilies erregte Stimme… die entsetzten Augen des jungen Vogelkind. »Kriegshäuptling?« Kriecher beugte sich vor, seine dicken schwarzen Brauen zogen sich zusammen. »Geht's dir gut?«
Spannerraupe schloß die Augen, er wollte die Bilder verjagen. »Sie hat gesagt, daß ihre Eltern nach Schildkrötendorf gezogen sind. Sonst noch etwas?« Spannerraupe machte die Augen auf; Kriecher betrachtete ihn besorgt. »Es geht mir gut. Sprich weiter.«
Kriecher nickte und fuhr leise fort: »Die junge Frau heißt Seide.«
»Seide?«
Ein eisiger Schauer lief Spannerraupe über die Arme, als hätte sein Körper die Mitteilungen richtig zusammengesetzt und versuchte nun, seine begriffsstutzige Seele zum Verständnis zu zwingen. Er schlug die Beine untereinander und starrte gebannt auf Kriecher. »Seide. Aus Schildkrötendorf. Ursprünglich vom Lanzenblattdorf -« Jetzt begriff er, und die Erkenntnis lief wie Feuer durch seine Adern. »Heilige Götter !«
»Was ist? Was ist los?«
»Sie ist mir tatsächlich bekannt vorgekommen. Ich konnte nur einen Blick auf sie erhaschen, als sie unter meinem Wachturm mit Nordlicht vorbeiging, aber -«
»Du kennst sie? Wer ist es?«
Spannerraupe starrte Kriecher unverwandt an. Dessen rundliches Gesicht, von kurzen schwarzen Haaren eingerahmt, hatte sich gerötet.
»Ich glaube, sie heißt in Wirklichkeit Maisfaser. Sie ist die Tochter von Palmlilie und Distel.« Kriecher lehnte sich gegen die Wand zurück und schwieg eine
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