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Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille

Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille

Titel: Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen O'Neal Gear , W. Michael Gear
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honigfarbenes Licht tanzte über die atemberaubenden Darstellungen der Thlatsinas auf der weißen Wand. Einige tanzten, nach vorn gebeugt, einen Fuß halb erhoben, schon zum Aufstampfen bereit. Andere standen mit beiden Beinen fest auf der heiligen Erde, die furchteinflößenden Schnäbel und Schnauzen geneigt vor den segenspendenden Abendleuten, ihr Lob heulend.
    Er bemühte sich um aufrechte Haltung, aber er hatte das Gefühl, sein Magen zöge sich zusammen. Achtundzwanzig Wandnischen, jeweils mit wunderbaren Opfergaben gefüllt, trennten die Thlatsinas, eine für jeden Tag des Mondes. Sittich- und Papageienfedern leuchteten in den Nischen, zusammen mit rituellen Töpfen und bemalten Tanzstöcken. Kostbares schwarz glänzendes Obsidian schimmerte um den Sockel jeder Opfergabe.
    Der unheimlichste aller heiligen Gesänge der Ältesten begann jetzt mit einem Flüstern: »Hututu! Hututu!«
    Kreuzdorn flüsterte ebenfalls den Namen des Regengottes, und er wußte, am Ende dieses Abends würde sich der Name zu einem Schrei steigern, so heiser und durchdringend, daß er die Himmelswelten auseinanderreißen würde. Heute nacht würde es regnen. Das war immer so. Viele Nächte lang war auch er, auf dem Dach sitzend, Zeuge dieses Rituals gewesen und hatte mit brennendem Herzen wissen wollen, wie diesen jungen werdenden Sängern wohl zumute war. Jetzt weiß ich's. Sie wollten alle ohnmächtig werden.
    Der Bären-Thlatsina deutete gelassen auf den Boden, auf die dünne Linie von Maismehl. Die Straße zum Leben. Sie verlief ostwärts und verband die Feuergrube mit dem Sipapu, dem dunklen Tunnel zur untersten aller Unterwelten. Kreuzdorn ging diese Straße entlang, vorsichtig die Füße setzend. Hututu! Hututu! Hututu!
    Was würde er wohl sehen, wenn er diese schwarze Röhre in die Erste Unterwelt hinabblickte? Die Legenden sagten, all seine Ahnen würden zu ihm heraufblicken.
    Ein Brunnen voll körperloser Augen…
    Der Bären-Thlatsina kniete neben dem Sipapu und wies Kreuzdorn seinen Platz an. Kreuzdorn saß mit untergeschlagenen Beinen dem Gott gegenüber. Zu furchtsam, um in die Öffnung zu blicken, solange es ihm nicht befohlen wurde, starrte er auf die weiße Maske des Thlatsina. Durch die schwarzen Augenlöcher sah niemand heraus. Da war nichts. Nur Dunkelheit.
    Die vier Ältesten, Hüter der heiligen Himmelsrichtungen, setzten sich im Kreis um Kreuzdorn und den Bären-Thlatsina herum; ihre runzligen Gesichter waren verhangen.
    Alte Frau Norden holte einen kleinen rotbraunen Topf, der mit verschlungenen Mustern bemalt war, unter ihrem Truthahnfeder-Umhang hervor. Sie hielt ihn in beiden Händen mit verkrümmten Fingern dem Thlatsina hin. Der Gott nahm ihn mit reinen weißen Händen und blies viermal in den Topf, jedesmal atemholend, und brachte zum Leben, was immer darinnen war.
    Hututu! Hututu'. Hututu! Hututu!
    Der Thlatsina schloß mit zwei Fingern Kreuzdorns Augen. Kreuzdorn zitterte, ohne es zu wollen. Ein seltsamer moschusartiger Geruch stieg ihm unangenehm in die Nase; irgend etwas berührte seine Lippen. Er macht den Mund auf. Eine dünne trockene Scheibe wie ein Stück ausgetrockneter Haut wurde ihm auf die Zunge gelegt. Ein bitterer Kreidegeschmack zog ihm den Mund zusammen. Er erschauerte unwillkürlich. Je mehr er die Scheibe hin und her schob und mit Speichel vermischte, um so schlechter schmeckte sie. Er kaute. Gleich darauf wurde ihm übel; die Muskeln zuckten vor Schwäche.
    »Ich … ich muß mich übergeben«, sagte er.
    Ein Topf wurde ihm in die Hand gedrückt.
    Sein Magen hob und senkte sich, bis er ihm wie eine bebende Masse von zerquetschtem Fleisch vorkam. Er setzte den Topf beiseite und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Trotz der Anstrengung hatte er die Augen nicht aufgemacht - und das wollte er auch nicht tun, es sei denn, man forderte ihn dazu auf.
    Schwach hallten die Trommelschläge durch die Kammer im Halbdunkel.
    Er konnte die Schläge auf den goldgetönten Rückseiten seiner Lider förmlich sehen. Aus jedem Schlag blitzten die vier heiligen Farben hervor, schössen hinaus wie glühende Pfeile, die bis ans letzte Ende seines Blickfelds flogen und darüber hinaus in einen leuchtenden Dunst.
    Er verlor jedes Zeitgefühl; er hätte hier bis in alle Ewigkeit sitzen können, doch plötzlich fuhr er auf, als Finger seine Augen berührten und die Lider sanft öffneten.
    Kreuzdorn blinzelte müde.
    Die Flöte begleitete die Trommel…
    Er verlor auch das Gleichgewicht. Er fiel nach vorn,

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